Die Integrationsfestigkeit des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der Kündigung von Arbeitsverhältnissen im Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG. Lisa Maria Völkerding
Blick auf den subjektiven Anwendungsbereichs Konsistenz und Praktikabilität aufweisen.140 Unabhängig vom Sonderfall der Kirche ist fraglich, inwieweit ein Richter die besondere Empfindlichkeit einer religiösen Eigenart ohne Überschreitung des staatlichen Neutralitätsprinzips und des Selbstbestimmungsrechts zu bewerten vermag. Zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts müsste die Einschätzung des Betroffenheitsgrades der Religionsgemeinschaft nach dem eigenen Selbstverständnis überlassen sein. Eine einzelfallgerechte Entscheidung mit Blick auf die betroffenen Rechte und Interessen der Gegenseite wäre demnach nicht sichergestellt.
Das Ziel der „Jedermann-Formel“, die Verhinderung von Sondergesetzen, kann durch die Übertragung des Gedankens der „allgemeinen Gesetze“ gem. Art. 5 GG ebenfalls erreicht werden. Durch das Erfordernis eines ohne Rücksicht auf das Selbstbestimmungsrecht zu schützenden Rechtsgutes wird der Prüfungsmaßstab objektiviert. Allerdings ermöglicht dieser Ansatz allein noch nicht eine einzelfallgerechte Gewichtung der betroffenen Rechtsgüter. Vorzugswürdig erscheint somit eine die Wechselwirkungen konfligierender Rechtsgüter berücksichtigende Güterabwägungslehre.
Soweit die gerichtliche Güterabwägung unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung als problematisch eingestuft wird, ist dem entgegen zu halten, dass der Gesetzgeber nicht in der Lage sein dürfte, jeden Einzelfall zu regeln. Für die Sicherstellung der Gerechtigkeit im Einzelfall erscheint demnach eine „Situationsjurisprudenz“141 unerlässlich.142 Die Rechtsprechung und die wohl herrschende Literatur räumen diesem schonenden Ausgleich widerstreitender Interessen mit guten Gründen eine hohe Stellung ein und nehmen in Kauf, dass sich die gerichtlichen Wertungen zu Lasten der Rechtssicherheit nicht stets verallgemeinern lassen.143 Ferner verfügt die Rechtsprechung auf dem Gebiet der Abwägungslehre über ein hohes Maß an Erfahrung, da sie diese Lehre seit vielen Jahren bei Entscheidungen im Rahmen von Art 5 Abs. 1, Abs. 2 GG anwendet. Eine Judikatur, die das Selbstbestimmungsrecht einer anderweitigen, weniger ausgereiften Kontrolle unterwirft, erweist der Rechtssicherheit vermutlich einen „Bärendienst“.
5. §§ 1 ff. KSchG und § 626 BGB als für alle geltende Gesetze
Das deutsche Kündigungsschutzrecht bildet eine für das kirchliche Selbstbestimmungsrecht bei der Kündigung von Arbeitsverhältnissen maßgebliche Schranke. Die §§ 2 ff. KSchG sowie § 626 BGB sind Gesetze i.S.d. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV.144 Die in ihnen enthaltenden unbestimmten Rechtsbegriffe („sozial ungerechtfertigt“ bzw. „wichtiger Grund“) eröffnen den Spielraum für die richterliche Güterabwägung.145
6. Das AGG als ein für alle geltendes Gesetz
Das AGG146 verbietet gem. §§ 1, 7 AGG eine Diskriminierung von Arbeitnehmern oder Bewerbern aus Gründen der Religion oder Weltanschauung.147 Insoweit schränkt das Gesetz kirchliche Arbeitgeber bei der Aufstellung von kündigungsrelevanten Loyalitätsanforderungen ein, die hinsichtlich der Konfession des Betroffenen differenzieren.148 Das Gesetz wirkt in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften als Schrankenregelung i.S.d. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV.149
7. Verfassungsimmanente Schranken
Die Freiheiten des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV werden durch die Grundrechte und Rechtsgüter von Verfassungsrang begrenzt, die eine verfassungsimmanente Schranke bilden.150 Diese Begrenzung tritt neben die „Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Sie bedarf eines förmlichen Gesetzes.151 Zur Begrenzung des Selbstbestimmungsrechts ist also nur der Gesetzgeber ermächtigt.152 Der Gesetzesvorbehalt folgt dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG.153 Es handelt sich um die Einschränkung einer Rechtsposition, die in den ausschließlichen Verantwortungsbereich des Gesetzgebers fällt (sog. „Wesentlichkeitsvorbehalt“).154
8. Schranken aus Konkordaten und Kirchenverträgen
Soweit die Kirchen sich gegenüber dem Staat vertraglich zu Einschränkungen ihres Selbstbestimmungsrechts verpflichtet haben, steht diesen Beschränkungen Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV nicht entgegen.155 Durch die vertragliche Übernahme von wechselseitigen Gewährleistungen bewirken Staat und Kirche die Harmonisierung ihres Verhältnisses.156 Die Reichskonkordaten und neueren Kirchenverträgen erkennen die „Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ verbindlich an.157
IV. Das Verhältnis von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV zu Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG
Es wird mit vielen Nuancierungen eine Auseinandersetzung darüber geführt, inwieweit Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 GG gegenüber Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG158 einen eigenständigen Sachverhalt regelt. Die umfassende Beleuchtung der Bedeutung des Art. 137 Abs. 3 WRV für die deutsche Verfassung gebietet eine Stellungnahme zu seiner Regelungsfunktion.
1. Der Streitstand im Überblick
a) Die Rechtsprechung des BVerfG
Das BVerfG weist in seiner Rechtsprechung auf eine eigenständige Bedeutung des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV hin:
„Die Garantie freier Ordnung und Verwaltung eigener Angelegenheiten ist eine notwendige, rechtlich selbstständige Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften (Art. 4 Abs. 2 GG) die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerlässliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt […].“159
Im Chefarzt-Urteil des BVerfG heißt es:
„Sie [gemeint sind die durch Art. 140 GG inkorporierten Artikel der WRV, Anm. d. Verf.] sind – mit Selbststand gegenüber der korporativen Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG – untrennbarer Bestandteil des Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes[…].“160
Zwischen der Religionsfreiheit i.S.v. Art. 4 GG und Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV bestehe nach Auffassung des BVerfG ein solch enger „organischer“ Zusammenhang, dass die Schutzgehalte des Art. 137 Abs. 3 WRV durch eine auf Art. 4 GG gestützte Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden könnten.161 Diese betrachtet das Verfassungsgericht umfassend, d.h. auch unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des Selbstbestimmungsrechts nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV.162 Soweit sich der Schutzbereich von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV und der korporativen Religionsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG decke, finde Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV zwar aufgrund der speziellen Schrankenbestimmung vorrangig Anwendung.163 Den schrankenlosen Gewährleistungen des Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG werde jedoch im Abwägungsprozess dadurch Rechnung getragen, dass dem Selbstbestimmungsrecht in der Abwägung mit konkurrierenden Rechten ein „besonderes Gewicht“ beizumessen sei.164
b) Institutionelle Freiheitsgarantie
Nach einer an die historischen Weimarer Wurzeln des Selbstbestimmungsrecht anknüpfenden Betrachtung wird Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV eine institutionelle Dimension beigemessen, die unabhängig von dem durch Art. 4 GG gewährleisteten Freiheitsgrundrecht zu betrachten sei.165 Diese Ansicht wird teilweise dahingehend modifiziert, dass eine gemeinsame Betrachtung von institutionellem Recht und Freiheitsrecht zu erfolgen habe.166
c) Auffangfunktion
Demgegenüber vertritt ein großer Teil der aktuelleren Literatur die