Die Integrationsfestigkeit des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der Kündigung von Arbeitsverhältnissen im Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG. Lisa Maria Völkerding
1 Einleitung
A. Thematische Hinführung und Problemaufriss
Das Wort „Integration“ entspringt dem lateinischen Begriff „integratio“, mittels dessen der Vorgang des „Vollwerdens“, des „Ganzwerdens“ oder der „Erneuerung“ ausgedrückt wird.1
Der vom BVerfG verwendete Begriff der „Integrationsfestigkeit“2 bezeichnet das Gegenteil: Das BVerfG vertritt die Auffassung, die Öffnung des Grundgesetzes zugunsten des europäischen Rechts unterliege Grenzen, die ein „Voll- und Ganzwerden“ der Bundesrepublik mit Europa ausschließen würden.3 Obwohl die vom BVerfG aufgezeigten Grenzen gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG im „Europaartikel“4 selbst angelegt sind, ist diese Rechtsprechung dem teils heftig formulierten Vorwurf ausgesetzt, den „Integrationsauftrag“5 des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zu verletzen.6
Dass dem „kirchlichen Arbeitsrecht“7 eines Tages eine besondere Rolle im Zusammenhang mit der Frage des Verhältnisses des deutschen (Religions-) Verfassungsrechts und des Primats des Unionsrechts zukommen könnte, wurde in der rechtswissenschaftlichen Literatur im Zusammenhang mit der Einführung der RL 2000/78/EG frühzeitig erkannt.8 Bereits im Jahr 1985 hatte das BVerfG im Stern-Urteil entschieden, dass Kündigungsentscheidungen kirchlicher Arbeitgeber aufgrund von Verstößen gegen kirchliche Loyalitätsanforderungen durch Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV vor einer umfassenden arbeitsgerichtlichen Kontrolle geschützt sind.9 Diesen Grundsatz hat das Gericht 2014 im Chefarzt-Urteil gerade in Bezug auf konfessionell differenzierende Loyalitätsanforderungen mit Nachdruck bekräftigt.10 Über 30 Jahre lang wurde das Prinzip der eingeschränkten arbeitsgerichtlichen Überprüfbarkeit von Kündigungsentscheidungen der häufig als „zweitgrößter Arbeitgeber“11 der Bundesrepublik bezeichneten Kirchen von den Institutionen der EU nicht angetastet.
Im Jahr 2018 entschied der EuGH dann gleich zweimal über den Umfang der gerichtlichen Prüfung von Entscheidungen kirchlicher Arbeitgeber. Das eine Mal ging es um die Konfessionszugehörigkeit als Tätigkeitsvoraussetzung im Dienst der evangelischen Diakonie (Egenberger12) und das andere Mal um die Kündigung aufgrund der Eingehung einer nach katholischem Kirchenrecht ungültigen Ehe (IR13). Die Anwendung der europäischen RL 2000/78/EG14 verlangt nach Auffassung des Gerichtshofs hinsichtlich der den Arbeitgeberentscheidungen zugrunde liegenden kirchlichen Loyalitätsanforderungen eine umfassende, objektive Kontrolle durch staatliche Gerichte.15 Auf Grundlage der EuGH-Urteile entschied sodann das BAG jeweils zu Lasten der kirchlichen Arbeitgeber.16 Die evangelische Diakonie legte in der Rechtssache Egenberger gegen das BAG-Urteil vom 25. Oktober 2018 am 16. März 2019 eine Verfassungsbeschwerde (2 BvR 934/19) ein und machte geltend, die der Entscheidung zugrunde liegende Rechtsprechung des EuGH verletze integrationsfeste Gehalte der Verfassung und finde daher keine Anwendung.17 Das Erzbistum Köln entschied sich aufgrund der zwischenzeitlich überarbeiteten katholischen Loyalitätsanforderungen gegen die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde in der Rechtssache IR.18
Folglich ist in absehbarer Zeit keine höchstrichterliche Beantwortung der Frage zu erwarten, ob das Selbstbestimmungsrecht kirchlicher Arbeitgeber bei der Kündigung von Arbeitsverhältnissen zu den „integrationsfesten“ Bestandteilen des Grundgesetzes zählt. Da aber die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache IR möglicherweise den Weg für weitere Verengungen der kirchlichen Freiheit geebnet hat, ist eine Klärung der Grenzen der unionsrechtlichen Beschränkungsmöglichkeiten mit Blick auf die etwa 1,3 Millionen19 kirchlichen Beschäftigungsverhältnisse sowohl von rechtlicher als auch von volkswirtschaftlicher Bedeutung.
B. Untersuchungsgegenstand
Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, ob ein Mehrebenenkonflikt im Anwendungsbereich der RL 2000/78/EG zwischen den unionsrechtlichen Vorgaben und den verfassungsrechtlichen Besonderheiten der arbeitsgerichtlichen Kontrolle von Kündigungsentscheidungen kirchlicher Arbeitgeber vermieden werden kann. Für den Fall, dass Widersprüche zwischen den unionsrechtlichen Vorgaben und den Maßgaben, die das BVerfG in den Verfahren Stern und Chefarzt für die arbeitsgerichtliche Kontrolle in Kündigungsschutzverfahren getroffen hat, verbleiben, soll geklärt werden, auf welcher rechtlichen Grundlage sich Bestandteile des Selbstbestimmungsrechts kirchlicher Arbeitgeber gegen unionsrechtlich determinierte Eingriffe behaupten können. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Beantwortung der bislang von Literatur und Rechtsprechung ungeklärten Frage, ob und in welchem Umfang das Selbstbestimmungsrecht kirchlicher Arbeitgeber speziell im Rahmen der Kündigung von Arbeitsverhältnissen zu der vom BVerfG für „integrationsfest“ erklärten Verfassungsidentität gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG zählt und damit den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang durchbricht.20 Insoweit betritt die Arbeit „verfassungsrechtliches Neuland“21.
C. Gang der Darstellung
Zur Bewältigung der Problemstellung nähert sich die Arbeit dem Mehrebenkonflikt in vier Kapiteln schrittweise sowohl auf nationalrechtlicher als auch auf unionsrechtlicher Ebene:
In § 2 wird zunächst ein Überblick über die Verankerung des Selbstbestimmungsrechts der kirchlichen Arbeitgeber im Grundgesetz gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV gegeben. Im Anschluss ist die Einordnung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts bei der Festlegung von Loyalitätsanforderungen und der Sanktionierung von Verstößen gegen diese Anforderungen im deutschen Recht Gegenstand näherer Betrachtung. Die Grundlagen des kirchlichen Dienstes werden im Hinblick auf das für die Fragestellung dieser Arbeit ausschlaggebende IR-Verfahren vornehmlich anhand der katholischen Dienstgemeinschaft erläutert. Das Kapitel schließt mit der Zusammenfassung und Bewertung der wesentlichen Aussagen des BVerfG in seinen Leitentscheidungen Stern und Chefarzt zur arbeitsgerichtlichen Kontrolle kirchlicher Kündigungsentscheidungen.
In § 3 soll das Verhältnis des europäischen Rechts zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht bei der Kündigung von Arbeitsverhältnisses untersucht werden. Die Analyse des Art. 17 Abs. 1 AEUV, der die Achtung des mitgliedstaatlichen Status der Religionsgemeinschaften gebietet und dessen Beeinträchtigung durch Unionsrechtsakte verbietet, dient dabei als primärrechtlicher Schlüssel zur Bestimmung des Verhältnisses des Unionsrecht zum deutschen Religionsverfassungsrecht. Es ist zu klären, inwiefern die Auslegung des Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG durch den EuGH in den Rechtssachen Egenberger und IR primärrechtskonform war. Unter Zugrundelegung der Ergebnisse des § 2 können Widersprüche zwischen der unionsrechtskonformen Auslegung des § 9 AGG durch das BAG und den Vorgaben des BVerfG aus den Leitentscheidungen Stern und Chefarzt ermittelt werden. Auch soll gezeigt werden, ob die Rechtsprechung des EuGH dem BAG auch eine Entscheidung zugunsten des kirchlichen Arbeitgebers erlaubt hätte.
In § 4 folgt eine vertiefte Analyse des Verhältnis des deutschen Verfassungsrechts zum europäischen Recht. Eine Gegenüberstellung der Perspektiven des EuGH und des BVerfG zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts soll zur Schärfung des Bewusstseins für mögliche Konfliktlagen beitragen. Die vorliegende Arbeit strebt eine Systematisierung der Grenzdogmatik des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG an, die die Bestimmung der Integrationsfestigkeit des Selbstbestimmungsrechts kirchlicher Arbeitgeber objektivieren soll. Schwerpunktmäßig sollen hierfür die tatbestandlichen Voraussetzungen einer erfolgreichen Identitätskontrolle und einer Ultra-vires-Kontrolle erarbeitet werden. Die Arbeit geht insbesondere der Frage nach, wie sich die integrationsfeste „Verfassungsidentität“ bestimmen lässt.
In § 5 werden die Anknüpfungspunkte und Grenzen einer möglichen Harmonisierung des Mehrebenenkonflikts analysiert. Im Falle verbleibender Widersprüche zwischen den verfassungsrechtlichen und den unionsrechtlichen Vorgaben werden die in § 4 gewonnenen Erkenntnisse genutzt, um zu klären, inwiefern der Anwendungsvorrang des Unionsrechts im Fall IR hätte durchbrochen werden können. Der Schwerpunkt liegt auf der Beantwortung der Frage, in welchem