Kirchliche Loyalitätspflichten und die Europäische Menschenrechtskonvention. Matthias Lodemann
die Bedeutung der Ehe in der katholischen Kirche als Sakrament. Gleichwohl bemühte das LAG in der Folge dann eigene kirchenrechtliche Mutmaßungen und untersuchte „ob die Eheschließung der Klägerin mit einem geschiedenen Partner heute noch auch aus kirchlicher Sicht eine schwere Verfehlung darstellt.“213 Mit Hinweis auf ablehnende Einzelstimmen verneinte das LAG dieses, was umso erstaunlicher erscheint, als doch eine Klärung nur „auf der Ebene der Gesamtkirche“ zu erreichen sein solle.214 Diese Frage letztlich offen lassend sah das Gericht die Kündigung sodann bereits deswegen als rechtswidrig an, weil sie dem privaten, nicht aber dem dienstlichen Bereich entsprang, was in einer Prüfung ausschließlich nach arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten nicht zur Rechtfertigung einer Kündigung genügen könne. Das LAG kam nämlich aufgrund einer eigenen Bewertung zu dem Schluss, dass der Kindergarten nicht den Anforderungen eines Tendenzschutzes genüge.215
III. BAG AP Nr. 2 zu Art. 140 GG
Zwar wurde dieses Urteil im Ergebnis vom BAG korrigiert, doch schränkte auch dieses Urteil – als erstes höchstrichterliches Urteil seit 1956216 – ebenfalls die Rechtsprechung des Anstreicher-Falles ein.217 Zunächst wurde festgestellt, dass das Betreiben eines Kindergartens sehr wohl dem missionarisch-diakonischen Auftrag der Kirche zuzuordnen sei und damit eine Angelegenheit der Kirche darstelle.218 Weiterhin betonte das BAG die Geltung des staatlichen Arbeitsrechts, das durch die besonderen kirchlichen Belange beeinflusst würde, indem diese notwendig in die Interessenabwägung einflössen. Das vorgenannte Urteil des LAG konnte daher keinen Bestand haben. Das Selbstordnungsrecht der Kirchen sei nämlich zumindest bei den Arbeitnehmern, die kirchliche Aufgaben wahrnehmen und somit, wenn auch abgestuft, an der Verkündigung teilhaben, bei der Konkretisierung und Spezifizierung von Kündigungsvoraussetzungen zu berücksichtigen. Könnten die Kirchen keine Loyalitätserwartungen voraussetzen, so wären sie gezwungen, ihr Selbstverständnis preiszugeben. Außerdem differenziert das BAG erstmals zwischen übrigen Tendenzträgern und der Kirche, bei der die Loyalitätsobliegenheit aus der zur Vermeidung der Unglaubwürdigkeit der Kirche gebotenen Untrennbarkeit von Dienst und Verkündigung resultiere. Das außerdienstliche Verhalten könne somit eine Kündigung rechtfertigen. Die Formulierung der kirchlichen Erwartungen müsse dabei den Kirchen vorbehalten bleiben. Schließlich seien auch Grundrechte der Klägerin nicht verletzt. Art. 4 GG könne keine „innerkirchliche Glaubensfreiheit“ statuieren, so dass der Vorrang der kirchlichen Selbstverwaltungsgarantie folgerichtig sei. Art. 6 I GG sei ebenfalls nicht verletzt. Als weltliches Institut sei die Ehe nicht berührt, zudem stärke die kirchliche Betrachtungsweise die Ehe durch ihre Unauflöslichkeitsforderung sogar noch. Aufgrund der Schwere des Verstoßes sei die Kündigung schließlich sozial gerechtfertigt. Im Ergebnis stärkte das BAG also im Verhältnis zur Vorinstanz die Rechte der Kirchen, ihre Loyalitätserwartungen selbst festzulegen, deutete jedoch bereits an, dass dies wohl nur in gestufter Form abhängig von der Nähe des Arbeitnehmers zum Verkündigungsauftrag zu akzeptieren wäre.
IV. BAG AP Nr. 4 zu Art. 140 GG; BAG NJW 1980, 2211
Bestätigt wurde dieses Urteil durch zwei weitere Urteile des BAG aus dem Jahr 1980.219 Zunächst hatte das Gericht über die ordentliche Kündigung einer katholischen Privatschule gegenüber einer Lehrerin aufgrund ihres verschwiegenen Kirchenaustritts zu entscheiden.220 Das BAG betonte nochmals die Anwendbarkeit des KSchG sowie – lediglich – die Beeinflussung der immanenten Interessenabwägung durch die kirchliche Selbstverwaltungsgarantie. Nachdem festgestellt wurde, dass die Lehrerin am Verkündigungsauftrag teilhat, würdigte das Gericht den Kirchenaustritt als hinreichend schwere Verfehlung, die die Kündigung rechtfertigte. Zum selben Ergebnis kam das BAG im Urteil selben Datums bezüglich einer Kündigung aufgrund der Eheschließung einer Arbeitnehmerin mit einem (noch) nicht laisierten Priester.221 Das BAG bestätigte also die beschriebene Rechtsprechung und betonte nochmals, dass eine Stufung notwendig sein könne.
V. BAG AP Nr. 7 zu Art. 140 GG
Konkretisiert wurde diese Judikatur zunächst durch das LAG Mainz222 und sodann in der Folge auch durch das BAG.223 In diesem Urteil vom 14.10.1980 hatte das BAG wiederum die Rechtmäßigkeit einer durch die Kirche ausgesprochenen Kündigung aufgrund des Eingehens einer kirchenrechtlich unzulässigen Ehe zu entscheiden. Hierzu rekurrierte das Gericht auf die bereits dargestellte Rechtsprechung, um dann in einem obiter dictum hinzuzufügen, dass derartige Loyalitätsobliegenheiten nicht automatisch jedem Arbeitsvertrag kirchlicher Arbeitnehmer innewohnen könnten. Vielmehr müsse ein sachlich gebotener Grund vorliegen. Loyalitätserwartungen dürfe die Kirche also nur haben, soweit ihre Glaubwürdigkeit widrigenfalls gefährdet wäre, was nur bei Tätigkeiten mit Nähe zu den spezifisch kirchlichen Aufgaben der Fall sein könne – zu prüfen und beurteilen durch das Fachgericht. Folgerichtig postulierte das Gericht damit die endgültige Abkehr von der Anstreicher-Entscheidung. Nachdem hier aber ein solcher Außenbezug der Tätigkeit vorlag, hatte die Kündigung im Übrigen daher Bestand.224 Bestätigt wurde diese Tendenz durch Urteil vom 03.11.1981.225 Dies stellte aber gleichzeitig das erste Urteil dar, in dem eine Kündigung höchstrichterlich keinen Bestand hatte. Die kündigende Kirche hatte das Fehlverhalten, die Verleitung zum Ehebruch durch den Kläger, zunächst toleriert und in der Folge nur mildere Sanktionen in Aussicht gestellt. Die Sache wurde daher zurückverwiesen.
VI. BAG AP Nr. 14 zu Art. 140 GG
Der Schritt vom obiter dictum zur ratio decidendi geschah mit Urteil vom 21.10.1982.226 In diesem Fall, der das öffentliche Eintreten eines katholischen Assistenzarztes gegen Grundsätze der katholischen Kirche zum Schwangerschaftsabbruch227 beinhaltete, ging der Kläger erfolgreich gegen seine aus diesem Grund ausgesprochene Kündigung vor. Obwohl die Beklagte als katholische Stiftung an der Kirchenautonomie teilnehme, finde in Übereinstimmung zur bisherigen Rechtsprechung das KSchG Anwendung. Die dem Arbeitnehmer auferlegten Loyalitätsobliegenheiten müssten jedoch der übertragenen Aufgabe entsprechen; daher könnten sie nur abgestuft vorliegen. Ansonsten wäre die sachliche Gebotenheit, die völliger arbeitsgerichtlicher Prüfungskompetenz unterliege, zu verneinen. Weiterhin beurteilte das BAG auch die Schwere des Verstoßes ebenfalls mit voller arbeitsgerichtlicher Prüfungskompetenz und kam letztlich zu dem Schluss, dass an der Interessenabwägung des Berufungsgerichts, das dem Kläger Recht gegeben hatte, keine Rechtsfehler erkennbar waren. Eine gegenteilige Annahme liefe auf die nicht akzeptable Schaffung absoluter Kündigungsgründe hinaus. Im Ergebnis verlangte das BAG damit gestufte Loyalitätsobliegenheiten und sprach sich eine umfassende Prüfungskompetenz zu.
In dieser Tradition folgten Urteile zum Kirchenaustritt eines Buchhälters, der nicht automatisch als Kündigungsgrund genügen sollte,228 zur ausgeübten homosexuellen Praxis eines Diplom-Psychologen,229 ein Urteil wiederum zur kirchenrechtlich unzulässigen Heirat230 und zuletzt ein weiteres Urteil zum Kirchenaustritt.231
B. Zusammenfassung
Die Rechtsprechung konnte zu diesem Zeitpunkt also als gefestigt bezeichnet werden. Das BAG beanspruchte Prüfungskompetenz in zweierlei Hinsicht: zunächst bezüglich der Frage, ob der Arbeitnehmer überhaupt gesteigerten Loyalitätsobliegenheiten unterläge; des Weiteren bezüglich der Schwere eines möglichen Verstoßes gegen dieselben.232
Auf zwei weitere Dinge sei der Vollständigkeit halber hier noch hingewiesen. Zum einen waren die damals einschlägigen Vorgaben der Kirchen bei weitem nicht so präzise wie die oben dargestellten.233 So lauteten beispielsweise die in diversen Fällen einschlägigen Vorschriften der Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes („AVR“) folgendermaßen (Auszug):
§ 1 I […] Die Mitarbeiter haben den ihnen anvertrauten Dienst in Treue zu leisten. Ihr gesamtes Verhalten in und außer dem Dienst muss der Verantwortung entsprechen,