Kriminologie. Tobias Singelnstein

Kriminologie - Tobias Singelnstein


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einem auf Erfüllung menschlicher Bedürfnisse gepolten Umfeld. Die Ambivalenz zwischen Übelzufügung und ihrem schieren Gegenteil, zwischen alltäglicher Praxis in Gefängnissen und Segregation der Gefangenen vom Alltagsleben markiert die Spannweite des Sozialen und reicht in die Wurzeln menschlichen Zusammenlebens. Die Übelzufügung durch Strafe ist durch die vorgängige Übelzufügung der Täter veranlasst; in dieser Kette gleichartiger Geschehnisse besteht die Logik der Vergeltung. Diese wird in unserer Kultur durch die protestantische Ethik des fleißigen Arbeitens26, die Herrschaftstechnik einer blutleer rationalen Staatsbürokratie27 und die punitiven medial gestützten Rufe nach Strafhärte28 untermauert.

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      Strafende Vergeltung antwortet auf ein gesellschaftlich relevantes Geschehen und ist zugleich als angeblich zweckfreie Vergeltung von solchem Geschehen abgelöst. Vergeltung bestätigt die Annahmen individueller Wahlfreiheit und Verantwortlichkeit. Das Konzept reduziert damit die Komplexität interaktiver menschlicher Beziehungen auf einseitige Ursächlichkeiten. Rechtfertigungsversuche der Strafe gründen darauf und setzen sich so zu dem moralischen Anliegen, Gutes zu tun, und dem gesellschaftlichen Unterfangen der Integration in Widerspruch. Dem Anliegen des Gesellschaftsvertrags wird in Rehabilitationsversuchen Rechnung getragen. Das Verständnis der Straftat als „Bruch“ des Gesellschaftsvertrags, der exzeptionelle Massnahmen feindlicher Art29 erlaubt, stempelt die Bestraften zu „Anderen“, geradezu „ultimativen Fremden“, die sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt haben und deren Ausgrenzung deshalb förmlich zu bestätigen ist. Die Arbeit an Gefangenen scheint damit in Widerspruch zu stehen. Sie gedeiht in einem Klima der „aggressiven Solidarität“, in welchem wohlmeinende Reaktionen auf sich selbst zugestandene Fehltritte und harte Sanktionen gegen als bedrohlich empfundene Gesellschaftsfeinde zugleich vorhanden sind30. Obgleich durch Verständnis und Mitleid bestimmt, ist die Gefangenenarbeit eine Auseinandersetzung mit dem personifizierten Übel.

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      Die durch das Vergeltungsbedürfnis begrenzte Behandlungsarbeit an Strafgefangenen integriert die Betrachter ebenso wie die exemplarische Präsentation von Kriminalitätsopfern in den Medien. Die darin zum Ausdruck kommende vermeintliche Bedrohung aller verflacht deren Unterschiede, schürt damit ein einheitliches Bedrohungsbild und facht so die aggressiven Emotionen der Gesellschaft an. Das Feuer der Emotionen richtet sich auf andere, die anders sind als wir selbst und denen wir deshalb zutrauen, dass sie uns zu Opfern machen.

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      Opfer von Straftaten stehen im Zentrum des öffentlichen Interesses, soweit ihr Leiden einfach nachvollziehbar ist und jedem bzw. jeder passieren könnte. Das dadurch erzeugte Mitgefühl konzentriert sich auf Ereignisse durch Gewalt und Übergriffe durch Fremde. Die oft sozialschädlicheren opferlosen oder fahrlässig verübten Delikte drohen dabei ähnlich wie das nichtkriminelle Opferwerden in den Hintergrund gedrängt zu werden. Ehrenwerte Bemühungen, das im Strafverfahren lange vernachlässigte Opfer mit mehr Rechten auszustatten, schränken Verteidigungsrechte ein und sind nur sehr begrenzt möglich. Die organisierte Opferhilfe bezieht sich auf virtuelle Opfer und gipfelt oft in Forderungen nach härterer Bestrafung. Die Belange realer Opfer, ihre Respekt- und Entschädigungswünsche werden dabei vernachlässigt (→ § 24 Rn 23 ff.).

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      Das soziale Leben in der Gesellschaft wird in der Auseinandersetzung mit zumeist medial vermittelten Straftaten und ihrer Behandelbarkeit gestaltet. Die rituellen Prozesse der Bestrafung, die Diskurse des Verurteilens und des Wiedereingliederns schaffen den gesellschaftlichen Rahmen, in welchem inklusive Praktiken für alle (anderen) möglich sind. Aus der exemplarischen Ausgrenzung der Einen wird der soziale Kontrakt der Zugehörigkeit der Anderen geschmiedet. Je brüchiger die Bande der Teilhabe ausfallen desto entschiedener müssen die Praktiken der Ausgrenzung durch Strafe sein. Eine Werbekultur, die Konsumenten ästhetisch und symbolisch anspricht anstatt sie nüchtern zu informieren31, stützt dabei einen sensationslüsternen Umgang mit Verbrechen und Strafe, in der das medial zur Schau Gestellte von der Wirklichkeit nicht mehr unterscheidbar ist und das Allgemeinwissen sowie die Kriminalpolitik prägt.

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      Das Buch erläutert diese Überlegungen aus der Perspektive einer Wissenschaft, die sich von dem engen Fokus auf kriminelles Handeln befreit und neben dem Verbrechen auch das Strafen32 und dessen soziale Wahrnehmung im Blick hat.

      1 Garofalo 1885.

      2 Die dem empirisch-rationalistischen Verständnis eher entsprechende Formulierung „Es ist der Fall“ mag hier fälschlich mit „Kriminalfall“ verwechselt werden und wird daher vermieden.

      3 Lautmann 2014.

      4 In Deutschland bestehen solche Dienste beim Bundeskriminalamt (BKA), beim Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) sowie bei der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ). Daneben sind in den Landesjustizministerien so genannte Kriminologische Dienste eingerichtet.

      5 So etwa Sack 1990, 15.

      6 „Unified body of knowledge“, so Fattah 1997, 173; ähnlich Göppinger 2008, 3, 39; Schneider 1993, 3.

      7 Walter 1982.

      8 Naucke 1986, 93.

      9 Rusche/Kirchheimer 1981.

      10 Platt 1984, 153; skeptisch Steinert/Treiber 1978.

      11 Melossi 1976, 29; Wächter 1984, 168.

      12 Sutherland 1983.

      13 Pearce 1976.

      14 Foucault 1976a; zum Stellenwert von Foucault in der Kriminologie Althoff/Leppelt 1991; Krasmann/Volkmer 2007.

      15 Foucault 1976a, 328.

      16 Taylor/Walton/Young 1975, 26.

      17 Mathiesen 1979.

      18 Christie 1986, 84 ff., 134 ff.

      19 Cremer-Schäfer 2015.

      20 Michalowski 2016.

      21 Ferell 2009; Hayward/Young 2012.

      22 Vgl. etwa „Theoretical Criminology. An International Journal“ (http://tcr.sagepub.com).

      23 Sessar 1986, 381.

      24 Fabricius 2015, 117 ff.

      25 Insofern differenzierend Fabricius 2015, 119 ff.

      26 Weber 1905.

      27 Weber 1976, 1. Teil, Kap. III.

      28 Kunz 2013.

      29 Jakobs 2003.

      30 Vgl. die Konzepte der criminology of the self und der criminology of the other bei Garland 2001, 17.

      31 Bauman 2009.

      32 Dostojewskij 1994.

      [14]§ 2 Der Forschungsgegenstand und seine Erschließung: Kriminalität erklären oder verstehen?

      Lektüreempfehlung: Reckwitz, Andreas (2012): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. 2. Aufl., Weilerswist, 13-26.

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      Nach konventionellem Verständnis lässt sich der Gegenstand kriminologischer Forschung als Trias darstellen und umfasst

      ■ die gesellschaftlich, vor allem rechtlich, als „kriminell“ gedeuteten Verhaltensweisen;

      ■ die Personen, die sich dergestalt verhalten oder denen solches Verhalten zugeschrieben wird;

      ■ die gewählten Reaktionsweisen auf dieses Verhalten, ihren Zusammenhang mit Verunsicherungsgefühlen und Punitivitätserwartungen und die gesellschaftliche Sinnbestimmung von Reaktionen auf Kriminalität.

      Um es prägnant


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