Kriminologie. Tobias Singelnstein
und dergleichen fokussieren bestimmte Bereiche der sozialen Wirklichkeit: Die Soziologie die gesellschaftlichen Beziehungen3, die Psychologie das menschliche Verhalten und Erleben und die Biologie die naturgesetzlichen Grundbedingungen des (menschlichen) Lebens. Bei der Kriminologie gibt es keinen solchen fachspezifischen Bereich, sondern ein umfassend auf Kriminalität bezogenes Erkenntnisanliegen, das sich der Methoden und Ergebnisse sämtlicher Bezugsfächer bedient. Insofern ist nicht von einem eigenständigen spezifisch „kriminologischen“ Wissensbestand auszugehen. Als Fach, das eine gegenstandsbezogene interdisziplinäre Perspektive einnimmt, ist es multiperspektivisch, disparat und den Einflüssen des Zeitgeists über den jeweils maßgeblichen fachspezifischen Bezug ausgesetzt.
5 Die Kriminologie ist gegenüber ihren Bezugswissenschaften organisatorisch und institutionell eigenständig. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird das Fach weltweit an Universitäten in der Untergraduierten- und Postgraduiertenausbildung unterrichtet. Zahllose universitäre Institute, Departemente, Colleges sowie nationale und internationale Vereinigungen wie die International Society for Criminology sind ihm gewidmet. Zudem existieren in den Führungsetagen der Sicherheitsinstitutionen, etwa beim FBI und bei internationalen Instanzen (UNO, Europarat), kriminologische Forschungsdienste4. Diese Selbstständigkeit verdankt die Kriminologie freilich nicht der Kohärenz ihres Fachwissens, sondern der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung des sich auf Kriminalität richtenden Erkenntnisinteresses.
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Die intellektuelle Originalität des Fachs ist hingegen umstritten. Die Kriminologie pflegt ein bestimmtes Genre des Diskurses über Kriminalität, welches sich um eine theoriegeleitete, empirisch geprüfte, nicht moralisch aufgeladene Argumentation bemüht. Es organisiert in diesem Sinne die Zusammenkunft von Forschern, welche [3] dieses Bemühen und das Interesse für das Thema Kriminalität teilen. Das scheinbar einheitliche kriminologische Forschungsfeld ergibt sich indes aus bezugswissenschaftlichen Zugängen, die nebeneinander relativ unabhängige Versionen des Fachs produzieren. Ob in der Diversität der Perspektiven überhaupt ein einheitliches Fach erkennbar ist, wird bezweifelt – speziell von Forschenden, die sich theoretisch stark an einer bestimmten Grundlagendisziplin orientieren.5 Demgegenüber beschwören andere – die zumeist um Einflussnahme auf die Strafrechtspraxis bemüht und darum am „Gütesiegel“ fachlicher Eigenständigkeit interessiert sind – die Unabhängigkeit und Eigenart der Kriminologie mit ihrem „vereinigten Wissensbestand“6.
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Indem wir der historischen Entwicklung des Fachs nachspüren, werden die Muster der Verteilung und Streuung wissenschaftlicher Aussagen über Kriminalität und gesellschaftliche Reaktionen darauf in der kriminologischen Ideengeschichte sichtbar (→ § 4). Später wird von Interesse sein, wie die Themen, die das zerstückelte Feld der Kriminologie teilweise dicht und andernorts lückenhaft füllen, mit allgemeineren Fragestellungen und Bezugsthemen in Verbindung stehen: Defizite der biologischen Ausstattung des Menschen, differente Lernumfelder, soziale Chancenungleichheit usw. (→ 2. Kap.).
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Die Kriminalität markiert einen „sozialen Problembereich“, der mit Dramatik ausgestattet ist und mit Handlungsbedarf assoziiert wird. Als Wissenschaft über etwas, das ein Übel darstellt und gegen das etwas unternommen werden sollte, ist die Kriminologie von gesellschaftlichen Problemwahrnehmungen beeinflusst und gibt ihrerseits Impulse für deren Inhalte. Soweit die derzeitige Gesellschaft aus verschiedenen zu erörternden Gründen (→ § 24) mehr als früher darauf angewiesen ist, die Zukunft zu beherrschen, Risiken zu kontrollieren und Sicherheit im Inneren zu schaffen, gewinnt die Aufgabe der Prävention und Reduktion von Kriminalität an Bedeutung. Der Ruf nach drastischen oder gar definitiven „Lösungen“ des Kriminalitätsproblems (→ § 23 Rn 33 ff.) steigert den Erwartungsdruck auf die Wissenschaft, dafür zweckdienliche Erkenntnisse zu produzieren. Indessen besteht ein Konflikt zwischen wissenschaftlicher Autonomie und praxisdienlicher Wissensproduktion, der innerhalb des Fachs eine Kluft zwischen akademischer und instanzennaher, eher „kriminalistischer“ Kriminologie öffnet.
9 In der Nähe von Instanzen der Strafverfolgung und der sonstigen Kriminalitätsbearbeitung wird die Kriminologie zur anwendungsbezogenen Bedarfsforschung und zielt auf die Produktion eines empirisch geprüften Erfahrungswissens7. Dabei geht es um das Erklären von Daten, welche als Indikatoren für Umfang und Struktur [4] des tatsächlichen Kriminalitätsvorkommens verstanden werden, durch deren statistische Bezugsetzung zu anderen Sozialdaten. Die Beschreibung von tatsächlichen Funktionsabläufen der Strafverfolgung erlaubt dieser eine folgenorientierte Selbstbeurteilung mit der Möglichkeit, aus Erfahrung zu lernen. Die systematische Analyse der faktischen Auswirkungen von Interventionen der Strafverfolgungsinstanzen ermöglicht die Prüfung, ob diese den erwarteten Erfolg haben. Die Eignung der kriminologischen Bedarfsforschung zur Optimierung der staatlichen Kriminalitätskontrolle und zur Evaluation kriminalpolitischer Handlungsstrategien macht diese Forschung zu einer bedeutsamen Informations- und Beratungsinstanz der praktischen Kriminalpolitik.
10 Freilich geht es bei einer solchen Bedarfsforschung stets und einzig um die Befriedigung des Informationsbedarfs staatlicher Instanzen zur Optimierung der Effizienz ihrer Strategien der Kriminalitätsverhütung und -bearbeitung. Die staatliche Folgenorientierung verlangt nach verwertbaren Erkenntnissen mit möglichst eindeutigem Aussagegehalt. Alles nicht erfahrungswissenschaftlich Überprüfbare, etwa materielle Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde, erscheint in dieser Perspektive als belanglos.8
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Die Servicefunktion der erklärenden Bedarfsforschung sollte indes nicht überschätzt werden. Empirische Befunde fallen selten genug eindeutig aus und noch seltener wecken sie einen ganz bestimmten kriminalpolitischen Handlungsbedarf. Da praktische Kriminalpolitik und Strafrechtsanwendung von Repräsentanten verschiedener politischer Interessen und Gruppen betrieben werden, verwundert es nicht, wenn jede der Gruppen aus dem reichlich vorhandenen erfahrungswissenschaftlichen Informationsangebot auf die ihr genehme Empirie zurückgreift bzw. sie im eigenen Interesse interpretiert. Zudem besteht die Gefahr der Orientierungslosigkeit infolge eines überreichen, teilweise heterogenen und ganz selten eindeutige Entscheidungen untermauernden Datenbestandes.
12 Als Gegenrichtung zur Bedarfsforschung haben sich verschiedene Strömungen der akademischen Kriminologie entwickelt. Diese bündeln sich heute im Wesentlichen im Erkenntnismodell des Verstehens, welches dem des Erklärens gegenübersteht (→ § 2). Ihnen ist gemein, dass sie die ihnen zugedachte Rolle der Stabilisierung des Kriminaljustizsystems ablehnen. Im Rahmen dessen wird verschiedentlich ein explizit „kritisches“, „radikales“ Fachverständnis vertreten (→ § 13 Rn 10, 21 f.). So haben in den 1930er Jahren Georg Rusche (1900-1950) und Otto Kirchheimer (1905-1965)9 erstmals auf der Basis der marxistischen Gesellschaftstheorie bezweifelt, dass das Kriminaljustizsystem Kriminalitätsverhütung bezwecke. Die Autoren nehmen an, die Kriminalitätskontrolle und gerade der Strafvollzug schaffe vielmehr [5] ein vorbildhaftes Muster für die Disziplinierung der proletarischen Klasse. Ihre ökonomische Analyse des Strafvollzugs kommt zu dem Ergebnis, dieser steuere im Wesentlichen den Zufluss und die Abschöpfung von Arbeitskräften.10 Die Arbeitssituation im Strafvollzug sei eine Imitationsvorlage für die allgemeine Arbeitsmoral.11 1945 skandalisierte Edwin H. Sutherland (1883-1950) die Kriminalität der Mächtigen und stellte mit Blick darauf die provokante Frage:
„Is ‚White Collar Crime‘ Crime?“12
Die Frage bezieht ihre bleibende Aktualität aus der darin anklingenden Annahme, dass das Kriminaljustizsystem kriminelle Handlungen und Personen selektiv erfasst und andere verschont. Das Schlagwort crimes of the powerful13 steht seither als Sinnbild für die zumeist nicht wahrgenommene, nicht verfolgte und nicht bestrafte Kriminalität der Träger sozialer, ökonomischer und politischer Macht.
13 Im Gefolge der 1968er-Studentenbewegung entwickelt sich in der westlichen Welt eine zunächst vor allem marxistisch inspirierte kritische Kriminologie. Diese sieht in der offiziellen Ideologie der Kriminalitätsbekämpfung eine Verschleierung der Disziplinierung von sozial ohnehin Benachteiligten, die im Interesse der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen status quo erfolgt. Michel Foucault