Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union. Klaus-Dieter Borchardt

Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union - Klaus-Dieter Borchardt


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dass die Nationalstaaten zwar über ihre nationalen Grenzen hinweg zur Zusammenarbeit mit anderen Staaten bereit sind, dies jedoch nur unter prinzipieller Aufrechterhaltung ihrer nationalstaatlichen Souveränität. Das auf einer Kooperation beruhende Einigungsbemühen richtet sich dementsprechend nicht auf die Schaffung eines neuen Gesamtstaates, sondern beschränkt sich auf die Verbindung souveräner Staaten zu einem Staatenbund, in dem die nationalstaatlichen Strukturen erhalten bleiben (Konföderation). Dem Prinzip der Kooperation entspricht die Arbeitsweise im Rahmen des Europarats und der OECD.

      [71] Das Integrationskonzept durchbricht das traditionelle Nebeneinander von Nationalstaaten. Die überkommene Auffassung von der Unantastbarkeit und Unteilbarkeit der Souveränität der Staaten weicht der Überzeugung, dass die unvollkommene Ordnung des menschlichen und staatlichen Zusammenlebens, die eigene Unzulänglichkeit des nationalen Systems und die in der europäischen Geschichte zahlreichen Machtübergriffe eines Staates auf andere (sog. Hegemonie) nur überwunden werden können, wenn die einzelnen nationalen Souveränitäten zu einer gemeinsamen Souveränität zusammengelegt und auf höherer Ebene in einer übernationalen Gemeinschaft verschmolzen werden. Das Ergebnis dieser Operation ist die Existenz[S. 77] eines Europäischen (Bundes-)Staates, in dem unter Bewahrung der Eigenheiten der in ihm zusammengeschlossenen Nationen die Geschicke der Menschen von Gemeinschaftsgewalten gelenkt und ihre Zukunft gesichert wird (Föderation).

      Die EU ist eine Schöpfung dieses Integrationskonzeptes, auch wenn es aufgrund des Beharrungsvermögens der Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer nationalen Souveränität einer Modifikation bedurfte. Die Mitgliedstaaten waren nämlich nicht bereit, die nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererlangte und gerade verfestigte Struktur ihres Nationalstaates zugunsten eines Europäischen Bundesstaates preiszugeben. Es musste also abermals ein Kompromiss gefunden werden, der – ohne einen Europäischen Bundesstaat errichten zu müssen – mehr als eine bloße Kooperation der Staaten gewährleistete. Die Lösung bestand darin, den Mitgliedstaaten nicht die vollständige Preisgabe ihrer Souveränität abzuverlangen, sondern lediglich die Aufgabe des Dogmas von ihrer Unteilbarkeit. Es ging also zunächst nur darum, festzustellen, auf welchen Sachgebieten die Mitgliedstaaten bereit waren, auf einen Teil ihrer Souveränität zugunsten einer ihnen allen übergeordneten Gemeinschaft freiwillig zu verzichten. Das Ergebnis dieser Bemühungen spiegeln die drei Gründungsverträge der EGKS, der EWG und der EAG wider.

      In ihnen und den heutigen Unionsverträgen sind diejenigen Gebiete im Einzelnen aufgeführt, auf denen der EU Hoheitsrechte übertragen worden sind. Dabei wird der EU und ihren Organen keine generelle Befugnis zum Erlass der zur Verwirklichung der Vertragsziele erforderlichen Maßnahmen erteilt, sondern Art und Umfang der Befugnisse zum Tätigwerden ergeben sich aus den jeweiligen Vertragsvorschriften (Prinzip der begrenzten Ermächtigung). Auf diese Weise bleibt der Verzicht auf eigene Befugnisse für die Mitgliedstaaten überschaubar und kontrollierbar.

      [72] Mit dem Instrument der verstärkten Zusammenarbeit wird die Grundlage für die Umsetzung der Idee von der Integration mit verschiedenen Geschwindigkeiten geschaffen. Es soll auch kleineren Kreisen von Mitgliedstaaten die Möglichkeit gegeben werden, auf einem bestimmten Gebiet, das in die Zuständigkeit der EU fällt, in der Integration fortzuschreiten, ohne dabei durch die zögernden oder ablehnenden Mitgliedstaaten gehindert zu werden.

      [73] Nachdem die Bedingungen und Verfahren für die Nutzung dieses Instruments ursprünglich (Vertrag von Amsterdam) noch sehr streng gehalten waren, wurden sie im Hinblick auf die Erweiterung der EU auf damals 27 Mitgliedstaaten etwas offener gestaltet (Vertrag von Nizza). Der Vertrag von Lissabon bündelt die bisherigen Vorschriften zur Verstärkten Zusammenarbeit in Art. 20 EUV (Rahmenbedingungen) und in den Art. 326–334 AEUV (ergänzende Bedingungen, Beitritt, Verfahren, Abstimmungsregeln).

      [S. 78]

      [74] Die Regelungen für eine verstärkte Zusammenarbeit können wie folgt zusammengefasst werden:

      • Eine derartige Zusammenarbeit kann nur im Rahmen der bestehenden Kompetenzen der EU genutzt werden und muss der Verwirklichung der Ziele der EU dienen und den europäischen Integrationsprozess fördern (Art. 20 EUV). Sie ist deswegen nicht geeignet, die in der EU-Vertragsarchitektur angelegten Defizite der Wirtschafts- und Währungsunion abzubauen. Die verstärkte Zusammenarbeit darf den Binnenmarkt und den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der EU nicht beeinträchtigen. Zudem darf sie zu keiner Behinderung, zu keiner Diskriminierung im Handel zwischen den Mitgliedstaaten sowie zu keiner Verzerrung des Wettbewerbs führen (Art. 326 AEUV). Die Zuständigkeiten, Rechte, Pflichten und Interessen der nicht an der Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten müssen beachtet werden (Art. 327 AEUV).

      • Die verstärkte Zusammenarbeit muss allen Mitgliedstaaten offenstehen. Außerdem muss es den Mitgliedstaaten gestattet sein, sich jederzeit der Zusammenarbeit anzuschließen, vorausgesetzt, die betroffenen Mitgliedstaaten kommen den im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit gefassten Beschlüssen nach. Die Kommission und die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass sich eine möglichst große Zahl von Mitgliedstaaten an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligt (Art. 328 AEUV).

      • Eine verstärkte Zusammenarbeit kann nur als letztes Mittel in Anspruch genommen werden, wenn der Rat zu dem Schluss gelangt ist, dass die mit dieser verstärkten Zusammenarbeit angestrebten Ziele unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Verträge nicht in einem vertretbaren Zeitraum verwirklicht werden können. Die Mindestschwelle für eine verstärkte Zusammenarbeit beträgt neun Mitgliedstaaten (Art. 20 Abs. 2 EUV).

      • Die im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit angenommenen Rechtsakte sind nicht Teil des Besitzstandes der EU. Diese Rechtsakte haben nur in den Mitgliedstaaten, die sich an der Beschlussfassung beteiligen, unmittelbare Geltung (Art. 20 Abs. 4 EUV). Die Mitgliedstaaten, die sich nicht daran beteiligen, stehen deren Durchführung allerdings nicht im Wege.

      • Die sich aus einer verstärkten Zusammenarbeit ergebenden Ausgaben werden mit Ausnahme der Verwaltungskosten von den beteiligten Mitgliedstaaten finanziert, sofern der Rat nicht nach Anhörung des Europäischen Parlaments durch einstimmigen Beschluss etwas anderes beschließt (Art. 332 AEUV).

      • Rat und Kommission müssen sicherstellen, dass die im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit durchgeführten Maßnahmen mit dem sonstigen politischen Handeln der EU im Einklang stehen (Art. 334 AEUV).

      [75] Für die Einhaltung des Verfahrens für eine verstärkte Zusammenarbeit gelten mit Ausnahme der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik folgende allgemeine Regeln (Art. 329 Abs. 1 AEUV): Die Mitgliedstaaten, die in diesen Bereichen eine verstärkte Zusammenarbeit zu begründen beabsichtigen, richten einen Antrag an[S. 79] die Kommission, die dem Rat einen entsprechenden Vorschlag vorlegen kann. Auf Vorschlag der Kommission erteilt der Rat die Ermächtigung mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments. Über einen Antrag eines Mitgliedstaats, sich einer verstärkten Zusammenarbeit anzuschließen, entscheidet die Kommission.

      In der Praxis ist auf dieses Instrument bisher in drei Fällen zurückgegriffen worden: Erstmals in der Geschichte der EU bedienten sich 14 Mitgliedstaaten Mitgliedstaaten (Belgien, Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Italien, Lettland, Luxemburg, Malta, Österreich, Portugal, Rumänien, Slowenien, Spanien und Ungarn) des Verfahrens der verstärkten Zusammenarbeit, um eine Regelung zu treffen, die Ehepaaren unterschiedlicher Staatsangehörigkeit bei einer Scheidung die Wahl des anwendbaren Rechts überlässt. Das Ergebnis ist in der Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 des Rates vom 20. Dezember 2010 über die Umsetzung der verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des bei Scheidung und Trennung anwendbaren Rechts niedergelegt60. Ein zweiter Anwendungsfall betrifft die Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes in Europa, der es Unternehmen oder Privatpersonen ermöglichen, ihre Erfindungen in 25 Mitgliedstaaten mit einem einzigen Europäischen Patent schützen zu lassen (nur Spanien


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