Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union. Klaus-Dieter Borchardt
[83] Als geschriebene Quellen des Unionsrechts sind zunächst die beiden jüngsten Unionsverträge (einschließlich der den Verträgen beigefügten Anhänge, Anlagen und Protokolle) zu nennen, die durch den am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon neu gestaltet bzw. neu geschaffen wurden:
• Der Vertrag über die Europäische Union („EUV“), der aus dem Vertrag zur Gründung der EU (Vertrag von Maastricht) hervorgegangen ist.
• Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union („AEUV“), der aus dem Vertrag über die Errichtung der Europäischen Gemeinschaft hervorgegangen ist.
• Der EU-Vertrag und der AEU-Vertrag haben den gleichen rechtlichen Stellenwert. Diese ausdrückliche rechtliche Klarstellung ist nötig, da der neue Titel des früheren EG-Vertrags („Vertrag über die Arbeitsweise der EU“) und die Art der Regelungsdichte in beiden Verträgen den falschen Eindruck erwecken können, dass es sich beim EU-Vertrag um eine Art Grundgesetz oder Grundlagenvertrag handelt,[S. 83] während der AEU-Vertrag eher als Durchführungsvertrag konzipiert erscheint. EU-Vertrag und AEU-Vertrag haben keinen formellen Verfassungscharakter.
• Daneben besteht weiterhin der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaften („EAGV“ – EURATOM) vom 25. März 1957 – „Römischer Vertrag“.
Den Unionsverträgen gleichgestellt ist die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (vgl. Art. 6Abs. 1 EUV).
2. Änderungs- und Ergänzungsverträge
[84] Die Gründungsverträge von EGKS, EWG und EAG sahen bereits Bestimmungen zur Fortbildung und Änderung des primären Gemeinschaftsrechts vor. Im EU-Vertrag sind die Regeln über die Fortbildung und Änderung des primären Unionsrechts nunmehr einheitlich in Art. 48 EUV niedergelegt. Von der Möglichkeit der Änderung und Ergänzung der Verträge ist bereits häufig Gebrauch gemacht worden. Erwähnung verdienen vor allem das Abkommen über die Einsetzung Gemeinsamer Organe für die Europäischen Gemeinschaften vom 25. März 1957 (l. Fusionsvertrag), das Abkommen zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 (2. Fusionsvertrag) einschließlich des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der EG sowie die Verträge zur Änderung bestimmter Haushalts- und Finanzvorschriften der Gründungsverträge vom 22. April 1970 bzw. vom 22. Juli 1975, die Einheitliche Europäische Akte (EEA) vom Februar 1986 (am 1. Juli 1987 in Kraft getreten), der Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 („Maastricht-Vertrag“ – am 1. November 1993 in Kraft getreten) mit seinen Änderungsverträgen von Amsterdam (am 1. Mai 1999 in Kraft getreten) und von Nizza (am 1. Februar 2003 in Kraft getreten) sowie zuletzt die Verträge über die EU und die Arbeitsweise der EU („Lissabon-Vertrag“ – am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten).
3. Beitrittsverträge
[85] Zum primären Unionsrecht gehören schließlich auch die im Zuge der Erweiterung der EG/EU geschlossenen Beitrittsverträge von 1972 (l. Erweiterung 1973: Dänemark, Irland und Vereinigtes Königreich)66, von 1979 (2. Erweiterung 1981: Griechenland)67, von 1985 (3. Erweiterung 1986: Spanien und Portugal)68, von 1994 (4. Erweiterung 1995: Österreich, Finnland und Schweden)69, von 2004 (5. Erweiterung: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakische Republik, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn, Zypern), von 2007 (6. Erweiterung: Rumänien und Bulgarien) und von 2013 (7. Erweiterung: Kroatien), einschließlich der Akte über[S. 84] die Beitrittsbedingungen und die Anpassungen der Verträge, soweit sie Vorschriften des primären Unionsrechts betreffen.
II. Das sekundäre Unionsrecht
[86] Das sekundäre Unionsrecht umfasst das von den Organen der EU aufgrund der Verträge geschaffene Recht. Es besteht aus Rechtsakten mit Gesetzescharakter, Rechtsakten ohne Gesetzescharakter (einfache Rechtsakte, delegierte Rechtsakte, Durchführungsrechtsakte), unverbindlichen Rechtsakten (Empfehlungen und Stellungnahmen) sowie sonstigen Rechtshandlungen, die keine Rechtsakte sind70.
Die Schaffung des sekundären Unionsrechts erfolgt allmählich und fortschreitend. Durch seinen Erlass wird das primäre Unionsrecht, das durch die Unionsverträge gebildet wird, mit Leben erfüllt und die europäische Rechtsordnung im Laufe der Zeit verwirklicht und vervollständigt.
III. Völkerrechtliche Abkommen der EU
[87] Diese dritte Rechtsquelle hängt mit der Rolle der EU auf internationaler Ebene zusammen. Als einer der Anziehungspunkte in der Welt kann Europa sich nicht darauf beschränken, nur seine eigenen inneren Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, sondern muss sich vor allem auch um seine wirtschaftlichen, sozialen und politischen Beziehungen zu anderen Ländern in der Welt bemühen. Zu diesem Zweck schließt die EU mit den „Nichtmitgliedstaaten“ der EU (sog. Drittländern) und anderen Internationalen Organisationen völkerrechtliche Abkommen, die von Verträgen über eine umfassende Kooperation auf handelspolitischem, industriellem, sozialpolitischem oder technischem Gebiet bis zu Abkommen über den Handel mit einzelnen Produkten reichen (Art. 207, 217, 218 AEUV).
Drei Formen vertraglicher Beziehungen zu den Drittstaaten sind hervorzuheben:
1. Assoziierungsabkommen (Art. 217 AEUV)
[88] Die Assoziierung geht über die Regelung rein handelspolitischer Fragen weit hinaus und ist auf eine enge wirtschaftliche Kooperation mit weitreichender finanzieller Unterstützung des Vertragspartners durch die EU ausgerichtet71. Zu unterscheiden sind drei Formen von Assoziierungsabkommen:
[S. 85]
a) Abkommen zur Aufrechterhaltung der besonderen Bindungen einiger Mitgliedstaaten der EU zu Drittländern (Art. 198 AEUV)
[89] Anlass für die Schaffung des Instruments der Assoziierung waren insbesondere die außereuropäischen Länder und Gebiete, die mit Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich als deren ehemalige Kolonien besonders enge Wirtschaftsbeziehungen unterhielten. Da die Einführung eines gemeinsamen Außenzolls in der EU den Handelsaustausch mit diesen Gebieten erheblich gestört hätte, waren Sonderregelungen notwendig. Ziel der Assoziierung dieser Länder und Hoheitsgebiete ist deshalb die Förderung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und die Herstellung enger Wirtschaftsbeziehungen zwischen ihnen und der gesamten Union (Art. 198 AEUV). So besteht eine ganze Reihe von Präferenzregelungen, die die Einfuhren von Waren aus diesen Ländern und Hoheitsgebieten zu einem ermäßigten oder Null-Zollsatz ermöglichen. Die finanzielle und technische Hilfe der EU wird über den Europäischen Entwicklungsfonds abgewickelt.
[90] Das in der Praxis mit Abstand wichtigste Übereinkommen ist das EU-AKP-Partnerschaftsabkommen, das die EU mit 77 Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks verbindet. Es wurde am 23. Juni 2000 in Cotonou (Benin) unterzeichnet72 und gilt bis 2020. Dieses Abkommen wird zurzeit in Wirtschaftliche Partnerschaftsabkommen (Economic Partnership Agreements) zwischen jeweils einer der sieben regionalen AKP-Ländergruppen (Westafrika, Zentralafrika, Ostafrika, Südostafrika, Südliches Afrika, Karibik, Pazifik) und der EU überführt. Dieser Prozess ist inzwischen für die pazifischen und karibischen Länder, das südliche Afrika und Ostafrika erfolgreich abgeschlossen worden, hingegen noch nicht für Südostafrika, Westafrika und Zentralafrika.73 Ziel dieser Abkommen ist die Schaffung einer Freihandelszone, die den AKP-Staaten