Fälle und Lösungen zum Öffentlichen Recht. Joachim Wolf
bejahen, wenn gegen einen denkbaren Vollzugsakt nicht – mangels Kenntnis hiervon (BVerfGE 100, 313, 354) – oder nicht in zumutbarer Weise (BVerfG, Urteil vom 15.02.2006, 1 BvR 357/05, BVerfGE 115, 118, 137) vorgegangen werden kann.
Würde sich die viel fliegende Geschäftsfrau F gegen ein in Kraft befindliches Gesetz wenden, so würde man ihre Beschwerdebefugnis bejahen müssen, da es ihr nicht zumutbar wäre, erst gegen den Vollzugsakt des Scannens im Flughafengebäude vorzugehen. Darum geht es aber hier nicht. Einer der genannten Fälle vom BVerfG bejahter „Vorwirkungen“ von noch nicht in Kraft getretenen Gesetzen, bei denen dieser Vorwirkungen wegen eine Beschwerdebefugnis bejaht werden kann, liegt hier nicht vor.
Im Ergebnis ist eine präventive Beschwerdebefugnis der F somit zu verneinen.
|31|Fall 2: Grundrechtsgeltung für EU-ausländische Unternehmen
Art. 19 Abs. 3 GG, Geltungsbereich deutschen Verfassungsrechts und europäischen Unionsrechts
Der deutsche Zigarrenhersteller Z hatte bei der in Bologna ansässigen italienischen Möbelfirma M Nachbildungen von Le Corbusier-Möbeln erworben und diese in einer von ihm zu Werbezwecken errichteten und ausgestatteten Zigarrenlounge in einer Ausstellungshalle für Kunstobjekte aufgestellt. M hatte die Möbel ohne urheberrechtliche Nutzungsrechte an den Le Corbusier-Modellen hergestellt. Diese liegen aufgrund von urheberrechtlichen Exklusivverträgen mit der Fondation Le Corbusier in Paris, welche die Rechte des verstorbenen Urhebers wahrnimmt, bei der italienischen Firma G. In Ausübung ihrer vertraglichen Nutzungsrechte stellt G weltweit exklusiv Möbel in Gestalt von Le Corbusier-Nachbildungen her. Der Exklusivvertrag mit der Fondation erlaubt G auch das gerichtliche Vorgehen gegen Rechtsverletzungen.
In Gerichtsverfahren vor den zuständigen deutschen Zivilgerichten hatte G die Zigarrenfirma Z erfolgreich wegen Urheberrechtsverletzungen durch Aufstellen von Le Corbusier-Nachbildungen in der Zigarrenlounge auf Unterlassung verklagt. Gegen die Nichtzulassung der Revision im zweitinstanzlichen OLG-Urteil erhob die italienische Firma M Beschwerde zum BGH. Wegen eines gleichzeitig anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens beim EuGH zur Überprüfung einer etwaigen Unvereinbarkeit deutschen Urheberrechts mit der EU-Urheberrechts-Richtlinie stellte der BGH seine Entscheidung zunächst zurück. Nachdem der EuGH eine Urheberrechtsverletzung verneint hatte, weil er nur in einer Eigentumsübertragung eine Verletzung des urheberrechtlichen Verbreitungsrechts sah, ließ der BGH die Revision des M-Unternehmens zu und wies die Klage der italienischen G-Unternehmens gegen Z unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils ab. Das deutsche LG hatte der Klage des Z-Unternehmens stattgegeben und war dabei – abweichend vom EuGH – von einer weiten Deutung des urheberrechtlichen Verbreitungsbegriffs ausgegangen. Nicht erst die Eigentumsübertragung, sondern schon die tatsächliche Gebrauchsüberlassung wie sie Z zur Ausstattung der Lounge vorgenommen hatte, stelle eine Verletzung des Verbreitungsrechts des Urhebers dar.
Gegen die BGH-Entscheidung erhob das italienische G-Unternehmen Urteilsverfassungsbeschwerde zum BVerfG wegen Verletzung ihres Eigentumsgrundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG an den Le Corbusier-Mustern. Abweichend von früheren Entscheidungen und langjährigen eigenen Zweifeln entschied das BVerfG (Beschluss v. 19.07.2011, 1 BvR 1916/09, JZ 2011, 1112), auf deutsche Grundrechte könnten sich aufgrund von Art. 19 Abs. 3 GG zwar keine „ausländischen juristischen Personen“ be|32|rufen, wohl aber alle in der EU ansässigen Unternehmen. Das folge aus den damaligen Verfassungsberatungen zu Art. 19 Abs. 3 GG sowie aus dem heutigen Integrationsstand der EU. In den Beratungen zum Grundgesetz wurde hervorgehoben, dass eine Erstreckung deutscher Grundrechte auf ausländische juristische Personen aufgrund deren minimaler Betätigungen in Deutschland nicht erforderlich sei. Daraufhin stimmte der Verfassungsgeber der vorgeschlagenen Beschränkung auf „inländische juristische Personen“ zu. Aus dem heutigen EU-Integrationsstand folgert das BVerfG, dass eine Diskriminierung in der EU ansässiger nichtdeutscher Wirtschaftsunternehmen gegenüber deutschen Unternehmen bei der Anwendung deutscher Grundrechte nach dem in Art. 18 AEUV verankerten Diskriminierungsverbot nicht mehr zulässig sei. Daher könnten alle EU-ansässigen Unternehmen auch geltend machen, dass sich deutsche Gerichte zu Unrecht durch Unionsrecht gebunden gesehen und hierdurch ihre Grundrechte verletzt hätten.
Im Ergebnis wies das BVerfG die Verfassungsbeschwerde des italienischen G-Unternehmens zurück, weil keine Verletzung des Eigentumsgrundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG vorläge. Es folgte dabei der engen Deutung des EuGH, dass nur Eigentumsübertragungen, nicht aber schon bloße Besitzüberlassungen den Tatbestand einer urheberrechtswidrigen Verbreitung erfüllen könnten. In der EU-Urheberrichtlinie ist die Frage, wann und wodurch eine urheberrechtswidrige Verbreitung eines urheberrechtlich geschützten Werkes vorliege, nicht geregelt.
Fallfragen:
1 Ist die Entscheidung des BVerfGs mit Art. 19 Abs. 3 GG vereinbar?
2 Nach Art. 18 AEUV gilt das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nur „im Anwendungsbereich“ der EU-Verträge. Steht die Annahme des BVerfGs, dass eine Verneinung des Schutzes EU-ausländischer Unternehmen durch deutsche Grundrechte unter Berufung auf Art. 19 Abs. 3 GG im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde des nichtdeutschen EU-Unternehmens gegen ein deutsches Gerichtsurteil eine unzulässige Diskriminierung darstelle, mit dieser Bestimmung im Einklang?
Strukturierung des Sachverhalts
1. Tatsachenstoff
Die französische Gesellschaft „Fondation Le Corbuisier“, Inhaberin sämtlicher Urheberrechte des bekannten verstorbenen französischen Architekten und Designers, überträgt die Rechte zur weltweiten Herstellung von Möbeln nach Mustern von Le Corbuisier in einem Exklusivvertrag an den italienischen Möbelhersteller G in Bologna. Unter Verletzung der Exklusivrechte von G stellt auch ein anderes italienisches Unternehmen – M – Möbel nach Mustern von Le Corbuisier her und verkauft diese u.a. an das deutsche Zigarrenunternehmen Z. Von Z werden die von M erworbenen Möbelstücke unentgeltlich in einer in einem anderen Unternehmen zu Werbezwecken |33|errichteten Zigarrenlounge aufgestellt. Hiergegen klagte G erfolgreich wegen Verletzung ihrer Urheberrechte vor deutschen Zivilgerichten. Wegen Nichtzulassung der Revision durch das letztinstanzliche deutsche OLG hatte der italienische Lieferant der Nachbildungen M Beschwerde zum deutschen BGH erhoben. Der BGH fühlte sich an eine gegenüber den deutschen Gerichten deutlich engere Interpretation des urheberrechtlichen Verbreitungsbegriffs gebunden, wonach nur die Eigentumsübertragung, nicht schon die unentgeltliche Besitzüberlassung an urheberrechtlich geschützten Werken eine rechtswidrige Verbreitung darstellt. Diese in einem Vorabentscheidungsverfahren ergangene Entscheidung veranlasste den deutschen BGH dem EuGH zu folgen. Er ließ die Nichtzulassungsbeschwerde des M zu und wies seine Klage gegen die vorinstanzlichen Entscheidungen deutscher Gerichte ab, die eine Urheberrechtsverletzung schon wegen bloßer Besitzüberlassung bejaht hatten. Im anschließenden Revisionsverfahren des italienischen M-Unternehmens werden die in den Vorinstanzen erfolgreichen Klagen von G gegen Z abgewiesen. Hiergegen erhebt das nunmehr benachteiligte italienische Unternehmen G Verfassungsbeschwerde zum BVerfG wegen Verletzung seines Eigentumsgrundrechts durch den BGH.
2. Parteivorbringen (Streitgegenstand)
G beruft sich auf eine europarechtskonforme Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG, der zufolge nach dem im Gemeinsamen Markt erreichten Integrationsstand deutsche Grundrechte für alle in der EU ansässigen Wirtschaftsunternehmen gelten müssten.
Ein streitiger Gegenstandpunkt hierzu kann im vorliegenden Fall deshalb nicht formuliert werden, weil sich der BGH zur Problematik der Grundrechtsgeltung nach Maßgabe von Art. 19 Abs. 3 GG nicht geäußert hat. Der Sache nach kommt die einschlägige streitige Rechtsposition aber in der anschließenden Formulierung der Fallfragen zum Tragen.
3. Rechtsfragen des Falles
Im vorliegenden Fall werden die einschlägigen Rechtsfragen nicht durch kontroverse Rechtsstandpunkte von Streitparteien geprägt, sondern inhaltlich aus einer Entscheidung des BVerfGs hergeleitet und als allgemeine Fallfragen präsentiert. Der grundrechtliche Fallbezug ergibt sich daraus, dass die im Sachverhalt dargestellte Streitgeschichte zwischen Z, M und G in einer