Fälle und Lösungen zum Öffentlichen Recht. Joachim Wolf
werden soll. Diese Erweiterung ist aber ihrerseits auf inländische juristische Personen beschränkt, d.h. auf solche, die nach deutschem Recht gegründet worden sind und ihren Sitz in Deutschland haben. Eine teleologische Auslegung spricht somit klar gegen eine erweiterte Geltung deutscher |37|Grundrechte über Art. 19 Abs. 3 GG hinaus auch auf alle in der Europäischen Union ansässigen Wirtschaftsunternehmen.
5. Ergebnis zur ersten Fallfrage
Die Entscheidung des BVerfGs ist mit Art. 19 Abs. 3 GG nicht vereinbar.
Zweite Fallfrage: Ist die vom BVerfG angenommene Verletzung des Diskriminierungsverbots des Art. 18 AEUV durch eine Verneinung des Grundrechtsschutzes für EU-ausländische Unternehmen damit vereinbar, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV nur „im Rahmen der Verträge“ gilt?
Das BVerfG hatte in der den vorliegenden Fall betreffenden Verfassungsbeschwerde des italienischen Unternehmens G die Fragen zu beantworten, ob sich in Deutschland wirtschaftlich tätige juristische Personen mit Sitz außerhalb Deutschlands, jedoch in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, auf Grundrechte des Grundgesetzes berufen können. Außerdem war darüber zu entscheiden, ob der bei einem Urheberrechtsstreit letztinstanzlich zuständige BGH bei der Auslegung und Anwendung nationalen, auf Unionsrecht beruhenden Rechts das Grundrecht auf Eigentum des beschwerdeführenden italienischen Unternehmens G beachtet hatte. Seine Entscheidung, dass sich auch in Deutschland tätige juristische Personen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der EU auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen können, gründete das BVerfG auf einen Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 26 Abs. 2 AEUV) sowie des allgemeinen Diskriminierungsverbots wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV). Aus diesen beiden Vorschriften des AEUV leitet das BVerfG „eine vertraglich veranlasste Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes“ ab.[15]
Der für den Fall einschlägige Beschluss des BVerfGs (vom 19.07.2011 – JZ 2011, 1112ff. und die Kritik an ihm)
Die Kenntnis des Begründungswegs, auf dem das BVerfG zu dem hier referierten Ergebnis seines Beschlusses gelangt ist, geht über den bei Studierenden zu erwartenden Kenntnisstand deutlich hinaus. Dasselbe gilt für die kritische Kommentierung der Entscheidung des BVerfGs durch Hillgruber (JZ 2011, 1118ff.). Die wesentlichen Positionen und rechtlichen Argumentationen des BVerfGs wie Hillgrubers sind daher referierend in das folgende „Gutachten“ einbezogen worden. Tatsächlich handelt es sich nicht um ein Gutachten im eigentlichen Sinne, sondern um die Präsentation eines Beispielsfalls aus der gerichtlichen Praxis, der sich gut zur Vermittlung von Grundkenntnissen zum nicht ganz einfach zu verstehenden Verhältnis von Europäischem Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht im Grundrechtsbereich eignet.
|38|1. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde der G – Akt öffentlicher Gewalt
Das angegriffene Urteil des BGH ist eine Maßnahme deutscher öffentlicher Gewalt und damit ein tauglicher Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde. Das gilt insbesondere auch für diejenigen im BGH-Urteil zugrunde gelegten Rechtsvorschriften des Urheberrechts, mit denen Umsetzungsverpflichtungen aus der unionsrechtlichen Urheberrechts-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt werden. Das G-Unternehmen hat die von ihm behauptete Verletzung seiner eigentumsrechtlich geschützten Urheberrechte maßgeblich darauf gestützt, dass der BGH ohne Weiteres die enge Interpretation einer – urheberrechtswidrigen – Verbreitung übernommen habe, ohne nach einem verbleibenden Umsetzungsspielraum der unionsrechtlichen Urheber-Richtlinie für den deutschen Gesetzgeber zu fragen. Hierzu führt das BVerfG aus:
„Wird … eine Verfassungsbeschwerde gegen eine Gerichtsentscheidung darauf gestützt, dass ein Gericht bei der Auslegung nationalen Umsetzungsrechts einen den Mitgliedstaaten verbleibenden Umsetzungsspielraum verkannt habe, beruft sich der Beschwerdeführer auf eine Verletzung deutscher Grundrechte im Bereich des unionsrechtlich nicht vollständig determinierten Rechts. Insoweit kann er auch geltend machten, das Gericht habe sich zu Unrecht durch Unionsrecht gebunden gesehen.“[16]
Mitgliedstaatliche Umsetzungsspielräume unionsrechtlicher Richtlinien – Nationales Recht
Integrationseffekte auf sekundärrechtlicher Grundlage, mit denen Erweiterungen des Unionsrechts auf Kosten der Geltung mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften stattfinden, kann es nur im Umfang sekundärrechtlicher Harmonisierungsverpflichtungen der Mitgliedstaaten geben. Über den Umfang solcher Verpflichtungen entscheidet der Inhalt unionsrechtlicher Richtlinien.
Integrationswirkungen aufgrund von Ersetzungen uneinheitlicher mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften durch harmonisierende EU-Richtlinien treten effektiv nur in dem Umfang ein, in dem die Mitgliedstaaten ihren Umsetzungsverpflichtungen aus der jeweiligen Richtlinie tatsächlich nachkommen und ihr nationales Recht richtlinienkonform anpassen.
Erst mit diesem letzten Schritt tritt sekundärrechtliches EU-Recht an die Stelle nationalen Rechts und kann von „im Rahmen der Verträge geltendem Unionsrecht“ gesprochen werden. Für den gesamten Regelungsbereich vor diesem letzten Schritt bleibt nicht harmonisiertes nationales Recht in Kraft.
2. Beschwerdebefugnis
Nach Ansicht des BVerfGs steht Art. 19 Abs. 3 GG der Beschwerdefähigkeit des italienischen G-Unternehmens nicht entgegen.
In seiner bisherigen Rechtsprechung hatte das BVerfG nur die Geltung prozessualer Grundrechte des Grundgesetzes für ausländische juristische Personen bejaht, diejenige der materiellen Grundrechte aber zunächst unter Berufung auf den klaren Wortlaut |39|des Art. 19 Abs. 3 GG abgelehnt.[17] In späteren Entscheidungen wurde dieselbe Frage mit Blick auf juristische Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union offen gelassen.[18] Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Frage fand nunmehr erstmals im hier behandelten Beschluss vom 19.07.2011 statt.[19]
Tragende Prämisse der nunmehr entgegen dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG bejahten Geltung deutscher Grundrechte für in der EU ansässige und in Deutschland tätige Wirtschaftsunternehmen ist ein Anwendungsvorrang des Europäischen Unionsrechts vor deutschem Recht. Diesen Anwendungsvorrang leitet das BVerfG aus den durch die europäischen Verträge übernommenen vertraglichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten ab, wie sie insbesondere in den europäischen Grundfreiheiten und – subsidiär – dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV zum Ausdruck kommen. „Ein Eingreifen der aus den Grundfreiheiten und Art. 18 AEUV abgeleiteten unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote“ setze „voraus, dass die betroffenen juristischen Personen aus der Europäischen Union im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig werden. Der Anwendungsbereich der Verträge“ richte „sich insoweit nach dem jeweiligen Stand des Primär- und Sekundärrechts der Europäischen Union und damit nach den ihr in den europäischen Verträgen übertragenen Hoheitsrechten (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 AEUV, vgl. BVerfGE 123, 267, 349ff.; 126, 286, 302). Insbesondere“ sei „er bei der Verwirklichung der Grundfreiheiten des Vertrags und dem Vollzug des Unionsrechts eröffnet. Die Tätigkeit der Beschwerdeführerin, die sich unter anderem auf unionsrechtlich (teil)harmonisiertes Urheberrecht“ berufe, „welches durch wirtschaftliche Aktivitäten in Deutschland verletzt worden sein“ solle, falle „in den Anwendungsbereich der Verträge in diesem Sinne (vgl. EuGH, Urteil vom 20.10.1993 – Phil Collins, a.a.O., Rn. 22, 27; Urteil vom 06.06.2002 – C-360/00 Ricordi, Slg. 2002, S. I-5088, Rn. 24). Die Anwendungserweiterung des Art. 19 Abs. 23 GG auf juristische Personen aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ reagiere „auf die europäische Vertrags- und Rechtsentwicklung und“ vermeide „eine Kollision mit dem Unionsrecht. Die Bundesrepublik Deutschland“ sei „an Art. 18 AEUV und die sich aus den Grundfreiheiten ergebenden Diskriminierungsverbote einschließlich ihres Anwendungsvorrangs vor nationalem Recht (BVerfGE 126, 286, 301f.) gebunden. Die Anwendungserweiterung“ beachte „den Grundsatz, dass das supranational begründete Recht der Europäischen Union keine rechtsvernichtende, derogierende Wirkung gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht“ entfalte, „sondern nur dessen Anwendung soweit“ zurückdränge, „wie es die Verträge erfordern und es die durch das Zustimmungsgesetz erteilten Rechtsanwendungsbefehle erlauben.