Familienrecht. Stephan Meder
Ein Gebot der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern war im 19. Jahrhundert zwar noch nicht allgemein anerkannt. Nach Maßgabe von Savignys „System“ des Privatrechts bereitet es jedoch keine Schwierigkeiten, die daraus resultierenden zwingenden Elemente als „jus publicum“ innerhalb des modernen Familienrechts zu identifizieren (S. 258).
Literatur
Aristoteles, Politik (hg.v. Olof Gigon), 4. Auflage (1981); Claus Bextermöller, Das Familienrecht in den Systemen der Pandektistik des 19. Jahrhunderts (1970); Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat (1576), hg.v. Peter Cornelius Mayer-Tasch (1981); Bill Drews, Gerhard Wacke, Wolfgang Martens, Klaus Vogel, Gefahrenabwehr. Allgemeines Polizeirecht (Ordnungsrecht) des Bundes und der Länder, 9. Auflage (1986); Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977–1978 (2006), S. 449–478 (Vorlesung 12); Sten Gagnér, Über Voraussetzungen einer Verwendung der Sprachformel „Öffentliches Recht und Privatrecht“ im kanonistischen Bereich, in: Deutsche Landesreferate zum VII. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Uppsala 1966 (1967), S. 23–57; Janet Halley & Kerry Rittich, Critical Directions in Comparative Family Law: Genealogies and Contemporary Studies of Family Law Exceptionalism, in: The American Journal of Comparative Law 58 (2010), S. 753–775; Duncan Kennedy, Two Globalizations of Law & Legal Thought (1850–1968), in: Suffolk University Law Review 36 (2003), S. 631–679; ders., Savigny’s Family / Patrimony Distinction and its Place in the Global Genealogy of Classical Legal Thought, in: American Journal of Comparative Law 58 (2010), S. 811–841; Johann Heinrich Wilhelm Kirchhoff, Gesinde-Recht nach Grundsätzen des Gemeinen und Preußischen Rechts und mit vorzugsweiser Berücksichtigung der Provinzial-Gesetze und Statute in Neu-Vorpommern und Rügen (1835); Ferdinand Regelsberger, Pandekten, 1. Band (1893); Moritz Renner, Zwingendes transnationales Recht. Zur Struktur der Wirtschaftsverfassung jenseits des Staates (2011); Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840); Rainer Schröder, Das Gesinde war immer frech und unverschämt. Gesinde und Gesinderecht vornehmlich
[<<18]
im 18. Jahrhundert (1992); ders., Gesinderecht im 18. Jahrhundert, in: Gotthardt Frühsorge, Rainer Gruenter, Beatrix Freifrau Wolff Metternich (Hg.), Gesinde im 18. Jahrhundert (1995), S. 13–39; Christian Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts (2008); Thomas Simon, „Gute Policey“. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit (2004); Michael Stolleis, Öffentliches Recht und Privatrecht im Prozeß der Entstehung des modernen Staates, in: Wolfgang Hoffmann-Riem, Eberhard Schmidt-Aßmann (Hg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen (1996), S. 41–61; Anton Friedrich Justus Thibaut, System des Pandekten-Rechts, 1. Band, 1. Auflage (1803); Thomas Vormbaum, Politik und Gesinderecht im 19. Jahrhundert, vornehmlich in Preußen 1810–1918 (1980).
[<<19]
1 In der Analogie zum Eltern-Kind-Verhältnis liegt auch der Grund, warum das Gesinderecht in das Gebiet des Öffentlichen Rechts, insbesondere des Polizeirechts eingeordnet wurde (Vormbaum, 1980, S. 140, S. 149; siehe auch Fußnote 56, S. 131).
1. Kapitel Grundlagen und Gang der Untersuchung
Das Familienrecht ist ein relativ junges Fach. Dies gilt vor allem für die Länder des „Common Law“. So hat der US-amerikanische Rechtstheoretiker Duncan Kennedy jüngst behauptet, das Familienrecht existiere in der „Common Law world“ als selbstständige Disziplin erst seit Kurzem (2010, 813). Ähnliche Aussagen finden sich bei englischen Rechtswissenschaftlern. In Deutschland kann das Familienrecht immerhin auf eine Tradition zurückblicken, die bis ins 19. Jahrhundert führt. Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) war der erste, der dem Eherecht der bürgerlichen Familie innerhalb des Rechtssystems einen selbstständigen Platz zugewiesen hat. Dies geschah freilich in einer Zeit, als die ungleiche Behandlung der Geschlechter im Recht, wenn überhaupt, nur von einer kleinen Minderheit angezweifelt wurde. Es herrschte ein Rollenverständnis, wonach der Mann in der Ehe befehlen durfte und die Frau gehorchen musste. Diese Vorstellungen sind heute überholt. An ihre Stelle ist die Idee einer formalen Gleichheit der Geschlechter getreten, die aber ebenfalls Probleme aufwirft. Denn formale Gleichheit kann dort zu Ungleichheiten führen, wo tatsächliche Unterschiede bestehen. Beispiele sind die aktuell im Unterhalts- oder Ehegüterrecht geführten Diskussionen. Die Forderung nach einem geschlechtergerechten Familienrecht ist also bis heute virulent geblieben.
Mit welchen Argumenten haben Juristen die ungleiche Behandlung der Geschlechter gerechtfertigt? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit sich Recht ändert und gewandelten Lebensverhältnissen anpasst? So lauten die Fragen, von denen der folgende Versuch einer „Geschichte des Familienrechts“ seinen Ausgang nimmt. Dabei ist zu beachten, dass die rechtlichen Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis und die Forderungen nach ihrer Überwindung nicht nur eine nationale, sondern auch eine internationale Geschichte haben.
[<<21] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe
1.1 Defizite in der Rechtsvergleichung
Frauenvereinigungen arbeiteten schon im 19. Jahrhundert auf internationaler Ebene zusammen, um die Rechtsordnungen ihrer Länder zu vergleichen. Von der damals noch jungen wissenschaftlichen Disziplin der „Rechtsvergleichung“ sind diese Aktivitäten allerdings kaum wahrgenommen worden. Denn die Rechtsvergleichung verfolgte in erster Linie praktische Ziele, indem sie etwa Kaufleute über internationales Handelsrecht zu informieren oder ausländisches Recht für die innerjuristische Argumentation fruchtbar zu machen suchte (Zweigert / Kötz, 1971, 58; Ranieri, 2003, 221). Dafür eignete sich vor allem das „Verkehrsrecht“, also Rechtsgeschäftslehre, Schuldrecht, Mobiliarsachenrecht oder Handelsrecht. Das Familienrecht blieb außen vor, weil es mehr mit nationalen Traditionen, kulturellen Eigenarten oder religiösen Prägungen verknüpft zu sein schien und zu innerjuristischer Argumentation oder Dogmatik wenig beizutragen hatte. Noch heute ist die Auffassung verbreitet, dass z.B. das europäische Kauf- oder Zahlungsverkehrsrecht leichter zu vereinheitlichen sei als das „mit unterschiedlichen Ansichten über das Leben und die Religion und mit Lebenserfahrungen im Allgemeinen“ zusammenhängende Familienrecht (de Groot, 2001, 618 f.).
Dennoch darf nicht übersehen werden, dass Ehe und Familie auch Gebiete sind, die im internationalen Vergleich viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Die abnehmende Zahl von Eheschließungen, die Erhöhung von Scheidungsquoten oder der Geburtenrückgang gehören zu jenen Phänomenen, die derzeit in allen „westlichen“ Ländern diskutiert werden. Die gemeinsamen Trends beschränken sich nicht auf die Gegenwart. Auch in der Vergangenheit hat es eine Vielzahl paralleler Erscheinungsmuster gegeben. So sind die Beseitigung der Gehorsamspflicht von Frauen, gemeinsame elterliche Sorge, Erleichterung von Scheidungen oder die Verbesserung der Rechtsstellung nichtehelicher Kinder bereits in einer Zeit länderübergreifend gefordert worden, als die wissenschaftliche Disziplin der Rechtsvergleichung Ehe und Familie, wenn überhaupt, allenfalls am Rande behandelt hat (Anderson, 2007, 59; Gerhard, 1993, 50).
Die Frauenbewegungen haben es also schon früh gewagt, im Familienrecht den Blick über die Landesgrenzen zu werfen. Der intensive
[<<22]
Gedankenaustausch zwischen Aktivistinnen verschiedener Nationen, die Durchführung internationaler Kongresse und die Gründung internationaler Organisationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind frühe Zeugnisse für das Entstehen einer globalen Zivilgesellschaft, deren Normsetzung unter Stichworten wie „new world order“, „global law without a state“, „Entstaatlichung des Rechts“ oder „ius non scriptum“ heute so lebhaft diskutiert wird. Dabei verdient Hervorhebung, dass aus Sicht der Frauenbewegung ein Vergleich ganz andere Funktionen als im klassischen Privatrecht zu erfüllen hatte. Zunächst sollte durch transnationale Kooperation die Aufmerksamkeit der Frauen auf die Rechtslage im eigenen Land gelenkt werden. Namentlich der „International Council of Women“ suchte auf Basis vergleichender Länderstudien Reformbedarf zu identifizieren, um mit überzeugenden Argumenten