Leitfaden der Rechtsgeschichte. Sibylle Hofer

Leitfaden der Rechtsgeschichte - Sibylle Hofer


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In inhaltlicher Hinsicht wurden dabei nicht selten erhebliche Veränderungen gegenüber dem bisherigen Recht vorgenommen.

      Erste Rechtssammlungen

      Die Kaiserkonstitutionen wurden nicht amtlich verbreitet, sondern allein in kaiserlichen Archiven verwahrt. Damit war die Kenntnisnahme durch Richter und Anwälte nicht gesichert. Auch bei den Juristenschriften wurde nicht für eine allgemeine Verbreitung gesorgt, obwohl sie als Rechtsquellen galten (s. Rn. 38). Dieser Zustand führte zum Bedürfnis nach offiziellen Zusammenstellungen. Der oströmische Kaiser Theodosius ließ eine Auswahl von Kaiserkonstitutionen erstellen, die 438 n. Chr. im Osten und ein Jahr später auch im Westen als Gesetz verkündet wurde (Codex Theodosianus). In der westlichen Reichshälfte fanden zudem Aufzeichnungen des römischen Rechts – in Gestalt des Vulgarrechts (s. Rn. 26) – nach dem Untergang des Weströmischen Reichs statt. Sie wurden von Herrschern germanischer Stämme veranlasst, die auf vormals römischen Gebieten siedelten (s. Rn. 63). Ausschlaggebend für diese Aufzeichnungen war die Ansicht, dass Römer auch unter germanischer Herrschaft einen Anspruch auf eine Beurteilung ihrer Rechtsfälle nach römischem Recht hatten.

      Corpus iuris civilis

      Im 6. Jahrhundert n. Chr. initiierte der oströmische Kaiser Justinian weitere Sammlungen des römischen Rechts. Er setzte eine Kommission ein, deren Mitglieder auch als „Kompilatoren“ bezeichnet werden, da sie den Auftrag hatten, Kaiserkonstitutionen und Publikationen von Juristen durchzuarbeiten und wichtig erscheinende Texte auszuwählen (compilare: ausplündern, ausbeuten). Nach einer ersten Durchsicht von Kaiserkonstitutionen legte die Kommission eine Sammlung von Auszügen aus Juristenschriften vor, die im Jahr 533 n. Chr. mit Gesetzeskraft publiziert wurde. Sie erhielt den lateinischen Titel „Digesten“ (digerere: ordnen, zusammenstellen). In der im Osten damals gebräuchlichen griechischen Sprache wurden die Digesten als „Pandekten“ (alles umfassend) bezeichnet. Kurz zuvor war zudem die Arbeit an einem Anfängerlehrbuch für den Rechtsunterricht, den sog. Institutionen, abgeschlossen worden. Da Justinian etliche Zweifelsfragen, die während der Rechtsaufzeichnungen aufgetreten waren, durch Konstitutionen geregelt hatte, entstand Bedarf an einer neuen Sammlung von kaiserlichen Rechtsetzungen. Deren Publikation erfolgte im Jahr 534 n. Chr. unter dem Titel „Codex“ (Buch). Die heute geläufige zusammenfassende Bezeichnung „Corpus iuris civilis“ für Institutionen, Digesten/Pandekten und Codex wurde erst im 16. Jahrhundert geprägt, als nach der Erfindung des Buchdrucks die ersten gedruckten Ausgaben erschienen, die alle drei Teile umfassten (s. Rn. 201). Für Kaiserkonstitutionen, die nach 534 ergingen, erfolgten keine amtlichen, sondern nur noch private Sammlungen (Novellen).

      Begriffliches: Der Titel Codex steht sprachlich in engem Zusammenhang mit dem Begriff der Kodifikation. Weder die Sammlung der Kaisergesetze noch das gesamte Corpus iuris civilis entsprechen jedoch dem modernen Kodifikationsverständnis (s. Rn. 208). Allgemeine Regeln, die aus heutiger Sicht ein zentrales Merkmal von Kodifikationen darstellen, finden sich darin nur selten. Das Corpus iuris civilis enthält vielmehr, insbesondere in den Digesten und im Codex, größtenteils Entscheidungen von Einzelfällen. Außerdem ist es nicht primär nach Rechtsmaterien, sondern nach Arten von Rechtsquellen gegliedert.

      Justinian setzte jeden Teil des Corpus iuris civilis mit einer kaiserlichen Konstitution in Kraft, in welcher er sich auch zum Ablauf der Arbeiten und deren Bedeutung äußerte. Dabei betonte er, dass das Werk keine inhaltlichen Widersprüche enthalte. Außerdem wurde klargestellt, dass allen Teilen – auch dem Anfängerlehrbuch – exklusive Geltungskraft zukomme und damit ein Rückgriff auf andere Gesetze bzw. Juristenäußerungen verboten sei. Bei neu auftretenden Rechtsfragen sollte ein kaiserliches Gutachten eingeholt werden. Hinter dieser Bestimmung stand der Anspruch des Kaisers, dass ihm allein die Befugnis zur Rechtsetzung zukomme.

      Corpus iuris civilis, Digesten, Constitutio Tanta (Konstitution Justinians vom 16. Dezember 533):

      Erat enim mirabile Romanam sanctionem ab urbe condita usque ad nostri imperii tempora, quae paene in mille et quadringentos annos concurrunt, intestinis proeliis vacillantem hocque et in imperiales constitutiones extendentem in unam reducere consonantiam, ut nihil neque contrarium (…) in ea inveniatur (…).

      15. Contrarium autem aliquid in hoc codice positum nullum sibi locum vindicabit nec invenitur, si quis suptili animo diversitatis rationes excutiet (…). 18. (…) non desperamus quaedam postea emergi negotia, quae adhuc legum laqueis non sunt innodata. Si quid igitur tale contigerit, Augustum imploretur remedium, quia ideo imperialem fortunam rebus humanis deus praeposuit, ut possit omnia quae noviter contingunt et emendare et componere et modis et regulis competentibus tradere.

      19. Hasce itaque leges et adorate et observate omnibus antiquioribus quiescentibus.

      Es war nämlich eine staunenswerte Tat, die römische Rechtsordnung, die von der Gründung der Stadt Rom bis zu den Tagen Unserer Herrschaft, also in einem Zeitraum von fast eintausendvierhundert Jahren, unter schweren inneren Auseinandersetzungen hin und her schwankte und dies auch auf die kaiserlichen Konstitutionen übertrug, in volle Harmonie zu überführen, so dass in ihr nichts mehr zu finden ist, was sich widerspricht (…). 15. Einander widersprechende Rechtssätze können aber in diesem Gesetzbuch keinen Raum beanspruchen, und man wird sie auch nicht finden, sobald man mit scharfem Verstand die Gründe für den Unterschied gehörig prüft.

      18. (…) rechnen wir fest damit, dass späterhin neuartige Rechtsgeschäfte auftauchen werden, die noch nicht festgeknüpften rechtlichen Bindungen unterworfen sind. Wenn daher irgend etwas derartiges geschehen sollte, ist ein kaiserliches Rechtsmittel zu erbitten, weil Gott das hohe kaiserliche Amt zu dem Zweck über die menschlichen Verhältnisse gesetzt hat, dass es alles, was neu entsteht, verbessern, befrieden und angemessenen Formen und Regeln übergeben kann.

      19. Diese Gesetze also sollt ihr verehren und befolgen, während alles ältere Recht zu verstummen hat.

      Die Magistrate (s. Rn. 22) hatten die Befugnis, im Rahmen ihrer Amtsgewalt Bekanntmachungen (sog. Edikte) zu publizieren. Für die Rechtsgestaltung waren vor allem die Edikte der Prätoren bedeutsam, zu deren Aufgaben Rechtsprechungsfunktionen zählten (s. Rn. 53). Die prätorischen Edikte enthielten vor allem die Ankündigung, welchen zivilrechtlichen Forderungen der Amtsinhaber Rechtsschutz gewähren werde. Damit bestimmten sie den Kreis zulässiger Ansprüche bzw. Klagen, für die auch Musterformeln angegeben wurden (Beispiel s. Rn. 54). Infolgedessen kam ihnen Rechtscharakter zu (ius honorarium: Amtsrecht).

      35. Verhältnis zu anderen Rechtsquellen

      Jeder Prätor gab zu Beginn seiner jährlichen Amtszeit ein neues Edikt heraus. Wenn dabei auch teilweise auf bewährte Regelungen aus früheren Edikten zurückgegriffen wurde, eröffnete die periodische Erneuerung doch die Gelegenheit, auf veränderte Umstände zu reagieren. Neue Ansprüche konnten aufgenommen und veraltete ausgeschieden werden. Bei der Abfassung des Edikts wurden die Prätoren, die regelmäßig keine juristischen Fachkenntnisse besaßen, von Rechtswissenschaftlern beraten. Das prätorische Amtsrecht ergänzte in der Regel die Gesetze und das Juristenrecht. Es konnte jedoch auch inhaltliche Veränderungen mit sich bringen:

      Corpus iuris civilis, Digesten 1, 1, 7 (aus einem Werk des Juristen Pomponius):

      1. Ius praetorium est, quod praetores introduxerunt adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iuris civilis


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