Wirtschaftsvölkerrecht. Markus Krajewski
Analyse hinzuweisen: Erstens ist grundsätzlich sorgfältig zwischen der empirischen und der normativen Dimension wirtschaftswissenschaftlicher Theorien zu differenzieren. Eine wirtschaftswissenschaftliche Theorie kann einerseits Aussagen darüber treffen, wie der Umfang und die Struktur internationaler Handels- und Finanzströme zu erklären sind oder wie sich bestimmte wirtschaftspolitische Entscheidungen auf das Volkseinkommen auswirken. Aus den jeweiligen empirischen Analysen, die z.T. auf abstrakten und komplexen Modellen beruhen, werden andererseits auch normative Aussagen über bestimmte politische Entscheidungen getroffen, die jedoch vor dem Hintergrund der tatsächlichen politischen und ökonomischen Bedingungen zu beurteilen sind. Für die sinnvolle Nutzung wirtschaftswissenschaftlicher Theorien im Rahmen der Erörterung von Rechtsfragen muss zwischen einem empirisch belegbaren Befund und einer normativ zu hinterfragenden Politikempfehlung unterschieden werden.
Beispiel:
Die Theorie der Handelspolitik kann mathematisch nachweisen, dass ein Zoll ein weniger effizientes Instrument zum Schutz der einheimischen Industrie ist als die gezielte Subventionierung dieser Industrie. Daraus wird die normative Aussage abgeleitet, dass Zölle abzubauen sind. Tatsächlich stellen Zölle für viele Entwicklungsländer eine wesentliche Einnahmequelle des Staats dar, da die wirtschaftliche Basis für ein allgemeines Steuerwesen fehlt. Subventionen sind zudem Instrumente, die aus finanziellen Gründen von vielen Staaten nicht eingesetzt werden können.
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Zum zweiten ist zu beachten, dass die normativen Aussagen der Außenwirtschaftstheorie regelmäßig davon ausgehen, dass es für ein Land grundsätzlich sinnvoll und wünschenswert ist, die Menge der für den Konsum zur Verfügung stehenden Güter zu erhöhen. Diese Annahme beruht auf der Prämisse der klassischen Wohlfahrtsökonomie, nach der die Erhöhung der Konsummöglichkeiten, d.h. entweder die Reduzierung des Preises oder die Ausdehnung des Angebots, stets wohlfahrtssteigernd ist. Ökologische und soziale Konsequenzen bzw. deren normative Bewertungen werden aus dieser Annahme (zunächst) ausgenommen.
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Die sog. konservative Wohlfahrtsfunktion weist dagegen darauf hin, dass eine Gesellschaft Einkommenssteigerungen z.B. durch die Reduktion von Preisen, einen relativ geringen Wohlfahrtsgewinn beimessen kann, während sie Einkommensverlusten einen relativ hohen Wohlfahrtsverlust zuschreibt. Die Gesellschaft hat dann ein größeres Interesse an der Einkommensbewahrung für alle Gruppen als an der Einkommenssteigerung einiger weniger. Sie versucht deshalb, Einkommensverluste für einzelne gesellschaftliche Gruppen möglichst zu vermeiden. Um dies zu erreichen ist die Gesellschaft auch bereit, auf eine mögliche Erweiterung der Konsummöglichkeiten zu verzichten.
Beispiel:
Eine Maßnahme, die dazu führt, dass statt 5000 t importierte Äpfel jährlich 1000 t einheimische Äpfel auf dem Markt eines Lands zur Verfügung stehen, reduziert nach den Prämissen der klassischen Wohlfahrtsökonomie die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt. Nach der konservativen Wohlfahrtsfunktion würde es die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt dagegen steigern, wenn auf diese Weise die einheimischen Apfelbauern nicht vom Markt verdrängt und weiterhin ein Einkommen erzielen würden.
Anmerkungen
Siehe zu dieser Unterteilung der Außenwirtschaftstheorie auch Krugman/Obstfeld/Melitz, Internationale Wirtschaft – Theorie und Politik der Außenwirtschaft, 11. Aufl., 2019 sowie Koch, Internationale Wirtschaftsbeziehungen, 3. Aufl., 2006, 1. Buch: Internationale Handelsbeziehungen, 2. Buch: Internationale Währungs- und Finanzbeziehungen.
Teil 1 Grundlagen › III. Theorie der internationalen Wirtschaftsbeziehungen › 2. Internationale Politische Ökonomie
2. Internationale Politische Ökonomie
Literatur:
Bieling, Internationale Politische Ökonomie: Eine Einführung, 2. Aufl. 2011, Schirm, Internationale Politische Ökonomie, 3. Aufl., 2013; Scherrer, Internationale Politische Ökonomie als Systemkritik, in: Hellmann/Wolf/Zürn (Hrsg.), Die neuen Internationalen Beziehungen, 2003, 465.
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Die Internationale Politische Ökonomie (IPÖ) untersucht die Wechselwirkungen von Politik und Wirtschaft im internationalen Kontext. Dabei geht es einerseits um die Auswirkungen nationaler Politik auf die internationale Wirtschaft – insofern bestehen Berührungspunkte zur Theorie und politischen Ökonomie der Handelspolitik – und andererseits um die Auswirkungen internationaler Wirtschaftsstrukturen auf die nationale Politik. Die zentrale Frage der IPÖ lautet: „Wie beeinflussen sich das nationalstaatliche Gemeinwohlinteresse der Politik und das transnationale Eigennutzinteresse der Ökonomie“?[1] Mit dieser Frage wird zugleich der grundlegende Unterschied zwischen der am Gemeinwohlinteresse orientierten und hauptsächlich auf Ebene des Nationalstaats agierenden Politik und der an Gewinnmaximierung orientierten und oft global ausgerichteten Wirtschaft deutlich.
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Traditionellerweise werden in der IPÖ drei große Schulen unterschieden: Nationalismus bzw. Realismus, Liberalismus und Marxismus. Diese drei Schulen beruhen auf grundsätzlich unterschiedlichen Prämissen und Methoden und kommen insofern auch zu unterschiedlichen Antworten auf die zentrale Frage der IPÖ. In neueren Beiträgen verliert die Unterteilung in diese Schulen an Bedeutung. Stattdessen ist erkannt worden, dass jede Schule wichtige Beiträge liefern kann, dass aber auch jeder Ansatz Kritik ausgesetzt ist.
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Im Mittelpunkt der IPÖ steht die Analyse von Institutionen und Interessen, von Macht und Strukturen. Diese Betrachtungen können wichtige rechtstatsächliche Erkenntnisse über Bedeutung und Funktion wirtschaftsvölkerrechtlicher Regeln liefern. Dies gilt z.B. für folgende Untersuchungsgegenstände der IPÖ:
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– | Bedeutung einzelner Staaten bzw. Handelsblöcke für das internationale Handelssystem Das Welthandelssystem wird durch wenige Staaten bzw. Handelsblöcke geprägt. Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit die politische und wirtschaftliche Hegemonie der USA dazu führte, dass das Welthandelssystem in weiten Teilen auf US-amerikanischen Vorstellungen beruhte, sind heute Kooperationen und Konflikte zwischen den großen Handelsblöcken USA, EU und Japan prägend. In den letzten Jahren ist die Bedeutung der sog. BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) erheblich gewachsen. Die Mehrheit der Entwicklungsländer kann dieser Vormachtstellung wenig entgegensetzen. Vor diesem Hintergrund kann gefragt werden, inwieweit der völkerrechtliche Grundsatz der Gleichheit der Staaten der Realität des internationalen Wirtschaftssystems entspricht. |
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– |
Rolle der internationalen Finanzinstitutionen für die wirtschaftliche Entwicklung der Entwicklungsländer
Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank sind für zahlreiche Entwicklungsländer nicht nur wichtige Finanzgeber, sondern beeinflussen durch ihre verschiedenen Programme und Politikempfehlungen auch die Wirtschaftspolitik in diesen Ländern.[2] Zwar bleiben die Länder gemäß dem Grundsatz der wirtschaftlichen Souveränität[3] aus völkerrechtlicher Sicht unabhängig bei der Gestaltung ihrer Politik. Durch den Einfluss der internationalen Finanzinstitutionen wird die tatsächliche Souveränität |