Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
sind dabei der Conseil d’État, die Conseils de préfecture und die anderen Kollegialorgane, die zur Entscheidung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten eingesetzt worden waren. Die Rechtsfigur des „ministre juge“ ging so weit, dass der Minister als der „gewöhnliche Richter in Verwaltungsangelegenheiten“ angesehen wurde, was bedeutete, dass er als der zuständige Richter galt, soweit eine Verwaltungsstreitigkeit nicht ausdrücklich durch Gesetz oder Verordnung einem anderen Richter zugewiesen war. Laferrière war überzeugt, dass diese Rechtsfigur nicht tragfähig sei. Für ihn war die so genannte „Gerichtsbarkeit der Minister in Wahrheit nichts anderes als die Manifestation ihrer administrativen Autorität, die spontan oder auf ein entsprechendes Begehren einer interessierten Partei hin in Angelegenheiten ausgeübt wird, die einem Rechtsstreit unterliegen“. Die fehlgehende Doktrin habe unter anderem den Nachteil, dass sie „jede vernünftige Theorie der Verwaltungsgerichtsbarkeit durcheinander bringt“.[32]
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Die Ansicht Laferrières wurde vom Conseil d’État anlässlich der Rechtssache Cadot am 13. Dezember 1889 bestätigt. Nachdem der Ingenieur Marie Emanuel Cadot de Villemonble im Anschluss an die Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses seitens der Stadt Marseille versucht hatte, durch die ordentlichen Gerichte und dann durch den Conseil de préfecture Schadensersatz zu bekommen, wandte er sich an den Minister des Inneren. Dieser lehnte es ab, sich mit dem Gesuch zu befassen. Der von Cadot aufgrund dieser Ablehnung angerufene Conseil d’État vertrat die Auffassung, dass der Minister rechtmäßig gehandelt habe, da die Frage „nicht in seine Kompetenz fällt“, und erklärte sich selbst für zuständig. Die Weigerung des Bürgermeisters und des Stadtrates von Marseille, Cadot weiter zu beschäftigen, habe zwischen den Parteien einen Rechtsstreit hervorgerufen, den zu entscheiden ihm zustehe.[33] Der Conseil d’État begnügte sich insofern nicht damit, der Doktrin des „ministre juge“ eine Absage zu erteilen. Er wies sich zudem selbst als Gerichtsbarkeit für das „gemeine Recht der administrativen Streitigkeiten“ (juridiction de droit commun du contentieux administratif) aus. Auf diese Weise erweiterte er deutlich seinen eigenen Zuständigkeitsbereich und vervollständigte die Trennung zwischen aktiver Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit.[34]
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff service public zum vorherrschenden Kriterium für die Bestimmung der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit und damit für die Anwendung des Verwaltungsrechts. Er rechtfertigte, dass Streitigkeiten, welche die Verträge und die Haftung der kommunalen Gebietskörperschaften betrafen, von den Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit auf die Verwaltungsrichter übertragen wurden.[35] Die Aktivitäten der kommunalen Gebietskörperschaften nahmen erheblich zu, weil diese vom Staat mit neuen Aufgaben betraut wurden. Auch bemühten sich die gewählten Amtsträger dieser Gebietskörperschaften darum, aus der Erweiterung ihrer eigenen Aufgabenbereiche durch das Departementgesetz (loi départementale) vom 10. August 1871, das von belgischen Vorschriften inspiriert war, und das Kommunalgesetz (loi municipale) vom 5. April 1884 Nutzen zu ziehen.[36]
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Der service public stand im Zentrum des Lehrgebäudes von Léon Duguit (1859–1928), der eine wohldurchdachte materielle Definition formulierte: Bei dem service public handelt es sich um „jede Aktivität, deren Entfaltung durch die Regierenden geregelt, geschützt und kontrolliert werden muss, weil sie für die Realisierung und Fortentwicklung sozialer Interdependenz unerlässlich und von solch einer Beschaffenheit ist, dass sie nur durch eine Intervention seitens der Regierungsgewalt vollständig gewährleistet werden kann“.[37]
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Den Bedarf an services publics zu befriedigen ist somit die Aufgabe der Regierenden, welche die sozialen Bedürfnisse interpretieren, die dem Rechtssystem zugrunde liegen. Nach Ansicht Duguits, der von der Soziologie Émile Durkheims beeinflusst war, stellte die Rechtsnorm nichts anderes als eine soziale Norm dar, die in eine bestimmte Form gegossen und für den Fall ihrer Nichtbeachtung mit Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet war. Duguit macht sich zum Herold einer objektiven Konzeption des Rechts. Das erste Werk, in dem er diese Konzeption entwickelte, L’Etat, le droit subjectif et la loi positive, das im Jahre 1901 veröffentlicht wurde, war seine Antwort auf das 1892 erschienene Buch von Georg Jellinek über das System der subjektiven öffentlichen Rechte. Duguit warf diesem und „der deutschen Doktrin des öffentlichen Rechts“ insgesamt vor, sie seien „ausschließlich subjektiv. Sie [scil.: die deutsche Doktrin] macht aus der öffentlichen Gewalt ein subjektives Recht, wobei der Staat als Person das Subjekt ist. Meine Doktrin“, fuhr Duguit fort, „ist ihrem Wesen nach objektivistisch: Ich lehne es ab, die Ausübung öffentlicher Gewalt als subjektives Recht zu begreifen; ich bestreite, dass der Staat die Eigenschaft eines Rechtssubjekts besitzt; ich sehe im Staat nichts anderes als eine faktische Macht, deren Gegenstand und Umfang durch das objektive Recht bestimmt werden“.[38]
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Für Duguit, der seinerzeit Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Universität von Bordeaux war, folgt das Besondere des Verwaltungsrechts aus dem Erfordernis, services publics zu erbringen, und nicht aus der öffentlichen Macht des Staates. Dieser besteht entweder aus einer Gesamtheit von Organen, welche die services publics im materiellen Sinne gewährleisten, oder aus einer Gesamtheit von services publics, diesmal im organischen Sinne, wie auch Duguit den Begriff in seinen Werken benutzt hat. Duguit hatte den Eindruck, dass sich der Conseil d’État und das Tribunal des conflits mehr und mehr dieser Natur des Staates und der kommunalen Gebietskörperschaften bewusst waren. In der Tat geschah dies in einem Moment der Dritten Republik, in dem sich das Thema Solidarität großer Beliebtheit erfreute. Vor diesem Hintergrund setzte sich zwischen 1903 und 1909 das Definitionskriterium des service public auch in der Rechtspraxis durch, insbesondere was die Streitigkeiten in Bezug auf Verträge mit dem Staat, den Gemeinden und den Departements sowie den Bereich der quasi-deliktischen Haftung anbelangte.[39]
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Zur gleichen Zeit wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung für einen weiteren Juristen von großem Format, der sowohl ein Freund als auch ein geistiger Rivale von Duguit war: Maurice Hauriou (1856–1929). Wie Duguit verfügte Hauriou über umfassende Geschichtskenntnisse; er interessierte sich für die philosophischen und sozialwissenschaftlichen Strömungen seiner Zeit, zitierte und diskutierte die Ansichten ausländischer, insbesondere deutscher, italienischer, britischer, spanischer und belgischer Autoren. Wie Duguit zögerte er nicht, heterodoxe Ideen zum Ausdruck zu bringen, beispielsweise über die Hierarchie der Gewalten: Er räumte der vollziehenden Gewalt Vorrang ein gegenüber der „beschlussfassenden Gewalt, die durch die parlamentarischen Versammlungen repräsentiert wird“[40], obgleich die Dritte Republik den Eindruck vermittelte, dass die beiden Kammern des Parlaments im Vergleich zu den fragilen und instabilen Regierungen allmächtig waren. Dennoch stellte sich Hauriou auf der Grundlage einer spiritualistischen Konzeption der Gesellschaft und des Rechts der objektiven Rechtskonzeption von Duguit entgegen. Er war ein zugleich sozial und liberal eingestellter Katholik.
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Mit Blick auf das Verwaltungsrecht formulierte Hauriou, der seinerzeit Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät von Toulouse war, seine Gedanken zum einen in einer großen Anzahl von Urteilskommentaren – mehr als 300 zwischen 1892 und 1928 – und zum anderen in den verschiedenen Auflagen seines Précis de droit administratif.[41] Er definierte dieses Rechtsgebiet als die „Gesamtheit der Rechtssätze, welche die Organisation der Verwaltungsbediensteten, ihre juristische Tätigkeit und ihre Beziehungen zu den administrés im Rahmen der Erfüllung der administrativen Aufgaben betreffen“. Diese Definition gelte, so fügte er hinzu, unabhängig davon, um welches Verwaltungsrecht es sich handele. Das französische Verwaltungsrecht ist ihm zufolge „ein Recht der Billigkeit, das auf der Prärogative der Verwaltung gründet, durch den Richter geschaffen ist und sich nach Maßgabe der Theorie der Handlungsformen gliedert“[42]. Hauriou verwies anlässlich dieser Ausführungen explizit auf Gaston