Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
Strukturen wiederhergestellt, um diesen Missständen zu begegnen, während der Terreur in besonders brutaler Weise. Diese Strukturen bildeten später die Grundlage für die zentralisierte napoleonische Verwaltung, die als die „klassische“ französische Verwaltung erscheint.[8]
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II. Die Ursprünge des Verwaltungsrechts
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Um die Ursprünge des französischen Verwaltungsrechts freizulegen, ist es unverzichtbar, sich sukzessive das Vermächtnis des Ancien Régime, den Beitrag der Französischen Revolution von 1789 bis 1799 sowie den Einfluss der Institution, die im 19. und 20. Jahrhundert eine Schlüsselrolle spielte, in Erinnerung zu rufen. Dies ist der Conseil d’État, der durch die Verfassung des Jahres VIII (1799), welche diejenige des ersten napoleonischen Reiches war, geschaffen wurde.
1. Das Vermächtnis des Ancien Régime
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Gegen Ende des Ancien Régime existierte eine Vielzahl administrativer Vorschriften. Diese betrafen die Organisation, die Funktionsweise und die Aktivitäten der außerordentlich zahlreichen kommunalen Verwaltungen, der deutlich weniger entwickelten Provinzverwaltungen sowie der königlichen Amtswalter, die mit Verwaltungsaufgaben betraut waren.
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Wie die Normen des Privatrechts entsprangen auch diese Vorschriften zwei Quellen, die bis ins Mittelalter zurückverfolgt werden können: auf der einen Seite das Gewohnheitsrecht, welches unter dem System der Feudalherrschaft ausgeprägt worden war und das Potenzial besaß, der dort verbreiteten Willkür gegenzusteuern; auf der anderen Seite die Texte der Gelehrten der beiden Rechte, also des römischen und des kanonischen Rechts. Diese haben einen konzeptionellen Rahmen zur Verfügung gestellt für wesentliche Begriffe, wie diejenigen der utilitas publica (Gemeinwohl), der necessitas publica (öffentlicher Bedarf), der universitas (juristische Person), des officium (Amt) und des fiscus (Staatskasse). Sie bildeten zudem den Ausgangspunkt für eine Reihe fachlicher Verbesserungen, unter anderem in Bezug auf die Rechtsstellung des Verwaltungspersonals, die rechtlichen Regeln für das einseitige und das vertragliche Handeln der Verwaltung, die rechtlichen Voraussetzungen für den Erwerb und Besitz von Gütern durch die Städte und Gemeinden, die Modalitäten im Zusammenhang mit Beschlagnahmen und Enteignungen sowie die Entschädigungen. Die Analyse der Rechtssätze, die während des Mittelalters im französischen Königreich das Funktionieren der Verwaltungen der Kommunen, der Provinzen und des Reiches regelten, erlaubt es, die auf die kanonischen Institutionen bezogene Einschätzung von Gabriel Le Bras auf das säkulare Recht auszudehnen: „Zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert wurden fast alle Kapitel eines Lehrbuchs zum Verwaltungsrecht skizziert.“[9] In der Zeitperiode vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des Ancien Régime wurden diese Regelungen weiterentwickelt, ausgebaut und präzisiert, so dass ihr jeweiliges Spezifikum klarer hervortrat.[10]
2. Der Beitrag der Französischen Revolution
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Der Beitrag der Französischen Revolution erscheint paradox, zeigten sich doch schon in der prägenden verfassunggebenden Nationalversammlung zwei widerstreitende Strömungen. Die erste knüpfte an die Ausrufung der Menschen- und Bürgerrechte an, stellte also auf die Perspektive des administré ab. Der zweiten ging es darum, die Autorität der Verwaltung zu schützen, auf welche die Anführer der Revolution bauten, um den Erfolg ihrer Unternehmung sicherzustellen.
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Die Gewährleistung der Rechte der Bürger modifizierte die Stellung der Verwaltung. Die Bürgerrechte konnten ihr entgegengehalten werden, zumal sie in der Tradition der Ideen von John Locke der politischen Ordnung vorgängig gehalten wurden. Die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen vom 26. August 1789 bezeichnete die Bürgerrechte als natürlich, heilig, unveräußerlich und unverjährbar. Die Daseinsberechtigung der Verwaltung bestand gerade darin, den Bürgern die Ausübung ihrer Rechte zu ermöglichen, da dies der „Zweck jeder politischen Einrichtung“ ist (so die Präambel der Erklärung).
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Das Prinzip der Gesetzesbindung der Verwaltung war nunmehr eine Konsequenz des Verfassungsgrundsatzes der Gewaltenteilung. Vor dem Hintergrund, dass das Gesetz Ausdruck des Willens der Allgemeinheit ist, wurde in der Verfassung der Vorrang der gesetzgebenden Gewalt verankert. Von der Legislative stammen die Maßnahmen von genereller Tragweite. Die Aufgabe der Exekutive beschränkt sich gemäß der Konzeption Jean-Jacques Rousseaus darauf, zur Umsetzung der Gesetze allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu erlassen. Die Verfassung von 1791 sprach sogar selbst dem König die Verordnungsgewalt ab. Sie untersagte den Verwaltungsbediensteten, sich in die Ausübung legislativer Gewalt einzumischen und die Anwendung der Gesetze auszusetzen. Eine entsprechende Regelung ist bereits in Art. 10 des zweiten Titels des Gesetzes vom 16. bis 24. August 1790 zu finden, der nach wie vor in Kraft ist.
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Um sicherzustellen, dass die Verwaltungsbediensteten auf lokaler Ebene die Gesetze beachten, griffen die Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung auf verschiedene Mittel zurück. Die übergeordneten Verwaltungsbehörden konnten rechtswidrige Maßnahmen der nachgeordneten Verwaltungsbehörden aufheben. Sie konnten dies aus eigener Initiative oder auf ein entsprechendes Begehren der administrés hin tun. Allerdings verfügten diese nicht über einen ordentlichen Rechtsbehelf. Zu ihrer Disposition stand lediglich eine Aufsichtsbeschwerde (recours hiérarchique), d.h. eine Beschwerde, die an den hierarchisch übergeordneten Amtsträger gerichtet wurde. Gegen Amtswalter, die rechtswidrig gehandelt hatten, konnten statusrechtliche Sanktionen verhängt werden (Suspendierung bzw. Amtsenthebung). Darüber hinaus konnten sie strafrechtlich belangt werden.
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Die Freiheits- und Gleichheitsrechte der Bürger wurden in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, in der Verfassung von 1791 und in den beiden vom Verfassungskonvent abgefassten Erklärungen von 1793 (Déclaration des droits de l'homme et du citoyen) und 1795 (Déclaration des droits et devoirs de l’homme et du citoyen) aufgezählt. Der Freiheitsgrundsatz führte dazu, dass vielfältige Eingriffe der Verwaltung in das wirtschaftliche Geschehen wegfielen. Die Meinungs- und Kommunikationsfreiheit setzte der Zensur Grenzen. Das Recht auf Eigentum wurde geschützt: Die Verwaltung durfte dem Einzelnen sein Hab und Gut nur unter strengen Voraussetzungen entziehen. Das öffentliche Interesse musste die Enteignung erforderlich machen, und vorab war eine gerechte Entschädigung zu leisten. Die Gleichheit vor dem Gesetz, beim Zugang zu öffentlichen Ämtern und bei der Besteuerung wurde ebenfalls garantiert.
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Zugleich aber stellte die Aufrechterhaltung der Autorität der Verwaltung ein zentrales Anliegen der Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung von 1789 und ihrer Nachfolger dar, die auf sie setzten, um die „Regeneration“ Frankreichs zum Erfolg zu führen. Dieses Anliegen manifestierte sich in zwei komplementären Stoßrichtungen. Einerseits wurden die proklamierten Freiheiten beschränkt, und den Bürgern wurden Pflichten auferlegt. Andererseits haben die Verfassunggeber (der Plural steht im französischen Original; Anm. der Übersetzer) und ihre Nachfolger die Verwaltung sehr stark gegenüber Zivil- und Strafrichtern in Schutz genommen.
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Obwohl es die Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung