Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
erlassen worden waren oder dass ihr Inhalt im Widerspruch zu den anzuwendenden gesetzlichen Vorschriften stand. Während der letzten Jahre des Ersten Kaiserreichs stellte sich der Conseil d’État allerdings auf den Standpunkt, dass der Beschwerdeführer zunächst vom Minister selbst die Aufhebung des acte administratif, dessen Gültigkeit in Abrede gestellt wird, verlangen müsse, soweit dieser acte nicht von einer unzuständigen Stelle erlassen wurde oder ein Fall der Befugnisüberschreitung vorlag. Waren die genannten Mängel gegeben, stand es dem Conseil d’État zu, direkt zu entscheiden. Rügte der Beschwerdeführer hingegen einen anderen Mangel, konnte der Conseil d’État nur über einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des „ministre juge“ mit der Angelegenheit befasst werden. Diese Differenzierung vermochte die Entwicklung des Instituts des recours pour excès de pouvoir nicht aufzuhalten, als dessen rechtliche Grundlage der Conseil d’État die Regelung über die „Beanstandungen der Unzuständigkeit (réclamations d’incompetence)“ im Gesetz vom 7. bis 14. Oktober 1790 ansah, was im Schrifttum allerdings nicht unumstritten war.[22] Der Conseil d’État vergrößerte die Zahl der Gründe, die zugunsten einer Aufhebung angeführt werden konnten, indem er insbesondere im Jahre 1864 die Aufhebung wegen Ermessensmissbrauchs zuließ; darüber hinaus dehnte er die Zulässigkeitsvoraussetzungen für den besagten Rechtsbehelf aus.[23]
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Was den Bereich der Haftung der Amtsträger und der öffentlichen Bediensteten anbelangte, traf eine provisorische Regierung, diejenige der Défense Nationale, die sich aus überzeugten Republikanern zusammensetzte, die Entscheidung, den besonderen Schutz der Beamten, der über die „garantie des fonctionnaires“[24] vermittelt wurde, durch die Gesetzesverordnung (décret-loi) vom 19. September 1870 aufzuheben. Mit dieser Maßnahme wurde das Ziel verfolgt, der ordentlichen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit die Befugnis zurückzugeben, de plano über Klagen zu entscheiden, die darauf gerichtet waren, Amtsträger und öffentliche Bedienstete zur Verantwortung zu ziehen.
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Das Tribunal des conflits nahm allerdings sehr schnell eine grundlegende Unterscheidung vor. Im Pelletier-Urteil vom 30. Juli 1873 verneinte es eine Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit, wenn dem betroffenen Amtswalter kein persönliches Fehlverhalten vorzuwerfen war. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit nur von solchen administrés angerufen werden konnte, die Schadensersatz verlangten, ohne Opfer eines persönlichen Fehlverhaltens geworden zu sein. Dieses System der Nichtkumulation von Verantwortlichkeiten wurde wie folgt gerechtfertigt: Das Opfer eines persönlichen Fehlverhaltens muss auf die persönliche Haftung desjenigen, welcher dieses Fehlverhalten begangen hat, vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit setzen; das Opfer eines einfachen, als „im Rahmen des service“ bezeichneten Fehlverhaltens muss demgegenüber die Haftung der öffentlichen Gemeinschaft vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Anspruch nehmen. Dieses logische System hatte für die administrés allerdings einen Nachteil: Sie konnten in einem schwerwiegenden Fall eines persönlichen Fehlverhaltens nicht sicher sein, entschädigt zu werden, weil die Möglichkeit bestand, dass der betroffene Amtswalter nicht über ausreichende Mittel verfügte, um Schadensersatz leisten zu können. Der Conseil d’État lockerte am 3. Februar 1911 seine Position, indem er für den Fall einer Kumulation von persönlichem und einfachem dienstbezogenen Fehlverhalten eine Geltendmachung kumulierter Verantwortlichkeiten zuließ.[25]
3. Die Begründung der Sonderstellung des Verwaltungsrechts
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Die Begründung der Sonderstellung des Verwaltungsrechts hängt an der Bestimmung des Kompetenzbereichs der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Der Conseil d’État griff auf verschiedene Kriterien zurück, um die Kompetenzabgrenzung zur ordentlichen Gerichtsbarkeit vorzunehmen, insbesondere auf dasjenige des acte administratif. Die Richter an den ordentlichen Gerichten waren nicht dafür zuständig, Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, die einen acte administratif zum Gegenstand hatten. Dabei wurden Maßnahmen, welche der Staat in seiner Eigenschaft als Eigentümer vornahm, als einfaches Verwaltungsgeschäft (acte de gestion) betrachtet und somit nicht erfasst. Während des Zweiten Kaiserreichs gestattete der Conseil d’État, dass die Verträge, die von der Verwaltung im Interesse eines service public geschlossen worden waren, in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte fielen, wenn der Vertragsschluss nach den Vorschriften des Code civil erfolgt war. Auch diese Verträge galten als actes de gestion und nicht als Maßnahmen im Rahmen der Ausübung von öffentlicher Gewalt (actes d’autorité), auf die das Verwaltungsrecht anzuwenden war.
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Im Bereich der Staatshaftung gebrauchte der Conseil d’État auch das Kriterium des „Staates als Schuldner (Etat débiteur)“, wobei er sich auf eine fehlerhafte Interpretation der Revolutionsgesetze stützte, die es den Zivilrichtern untersagt hatten, den Staat zu Schadensersatz zu verurteilen. Das Kriterium wurde vom Tribunal des conflits im Blanco-Urteil vom 8. Februar 1873 zugunsten eines bis dahin zweitrangigen Kriteriums, und zwar desjenigen des service public, aufgegeben: Die Haftung des Staates „kann nicht durch die Grundsätze, die im Code civil für die Beziehungen zwischen Privatpersonen aufgestellt sind, bestimmt werden. […] Sie hat ihre speziellen Regeln, die je nach den Erfordernissen des service und der Notwendigkeit, einen Ausgleich zwischen den Rechten des Staates und den privaten Rechten herbeizuführen, variieren.“[26] Damit erscheint die Entscheidung als eine Grundsatzerklärung zu der Unentbehrlichkeit und der Besonderheit des Verwaltungsrechts. Das Unterscheidungskriterium des service public setzte sich dann gegenüber der Unterscheidung zwischen den actes d’autorité und den actes de gestion ab den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts als das primäre zur Bestimmung des Verwaltungsrechts durch.[27]
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Während dieses Zeitraums widmete ein prominentes Mitglied des Conseil d’État, Edouard Laferrière (1841–1901), der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein essenzielles Werk, in dem er ihre historische Entwicklung nachzeichnete, ihre Grundlagen klärte und die Rechtsprechung darlegte.[28] Vor allem unterbreitete er eine Analyse und Klassifizierung der Rechtsbehelfe, die sich aufgrund ihrer Stringenz und Klarheit durchsetzen sollten. Laferrière unterschied vier verschiedene gerichtliche Verfahren, angefangen mit demjenigen der pleine juridiction, welcher die Rechtssachen unterliegen, in denen die Verwaltungsgerichtsbarkeit die weitreichendsten Befugnisse ausübt. Sie urteilt über Sach- wie über Rechtsfragen und fällt eine Entscheidung zwischen zwei Streitparteien wie die ordentlichen Gerichte. Sie kann insbesondere auch zur Zahlung von Schadensersatz verurteilen. Das zweite Verfahren ist dasjenige der Aufhebung (annulation), des recours pour excès de pouvoir. Laferrière sah darin „eine der interessantesten Schöpfungen der französischen Jurisprudenz“ und zog einen Vergleich zwischen dieser Schöpfung und dem „ausgeklügelten und beharrlichen Werk, das im römischen Recht durch die Jurisprudenz des Prätors zustande gebracht wurde“.[29] Das dritte Verfahren ist dasjenige der Auslegung (interprétation), bei welchem die Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgrund des Prinzips der Gewaltenteilung mit der strittigen Auslegung eines acte administratif oder mit der Beurteilung von dessen Gültigkeit anlässlich eines Rechtsstreits, der bei einem ordentlichen Gericht (tribunal judiciaire) anhängig ist, befasst wird. Das vierte Verfahren ist dasjenige der Ahndung (répression): Der Verwaltungsrichter sanktioniert Schädigungen, die durch Privatpersonen an der sog. grande voirie vorgenommen wurden, d.h. an natürlichen oder künstlich angelegten Verbindungswegen, die dem allgemeinen Verkehr dienen, oder an gewissen Bauwerken, die durch verschiedene Gesetze diesem Schutzregime unterstellt worden sind.[30]
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Laferrière zeigte sich sehr kritisch gegenüber der Rechtsfigur des „ministre juge“, die bereits im Zusammenhang mit dem recours pour excès de pouvoir erwähnt wurde.[31] Sie wurde paradoxerweise zu einer Zeit entwickelt, als sich die Organisation