Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
Das System der durch das Staatsoberhaupt wahrgenommenen „justice retenue“[13] wurde auf diese Weise wiederhergestellt. Demgegenüber stellten die Einsetzung der Kommission und die nachfolgende Annahme von Verfahrensvorschriften einen nicht zu leugnenden Fortschritt dar.
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Der Conseil d’État erwies sich als überaus nützlich und überstand daher die politischen Regimewechsel, auch wenn er während der Restauration und der Julimonarchie (1830–1848) seinen Status als Verfassungsorgan einbüßte. Zu Beginn des zweiten, liberaleren Regimes wurden spürbare Modifikationen in Bezug auf die Behandlung der Streitigkeiten vorgenommen. Die Angelegenheiten, die Gegenstand eines Beschwerdeverfahrens vor dem Conseil d’État waren, wurden weiterhin durch ein spezielles Gremium untersucht. Diesem saß jedoch ab dem Jahre 1832 nicht mehr der Justizminister, sondern ein Mitglied des Conseil d’État vor. Der Bericht, der von diesem Gremium erstellt wurde, wurde in der für den Rechtsstreit anberaumten Generalversammlung in öffentlicher Sitzung verlesen. Die Anwälte der Parteien hatten das Recht, ihre Beurteilung des Falles vor der Generalversammlung mündlich vorzutragen, was sie in die Lage versetzte, ihre in den Schriftsätzen niedergelegten Ausführungen zu erläutern und zu ergänzen. Der für den Rechtsstreit zum Berichterstatter bestimmte maître des requêtes legte in seiner Eigenschaft als Beauftragter des Königs (commissaire du roi) seine Schlussfolgerungen dar. Seine Intervention wurde ursprünglich, d.h. im Jahre 1831, konzipiert, um zugunsten der Verwaltung einen Ausgleich zu schaffen zu der den Anwälten der Parteien eingeräumten Möglichkeit, sich zu äußern. Die commissaires du roi waren jedoch der Ansicht, dass sie nicht unter allen Umständen die Position der Verwaltung zu vertreten hatten. Sie gingen davon aus, dass sie frei und unparteiisch ihre Meinung über den Rechtsstreit abgeben sollten. Die Generalversammlung trat anschließend in eine Beratungsphase ein, in der sie sich nach verschiedenen Regeln richtete. Sie verabschiedete einen Urteilsentwurf, der dem König zum Zwecke der Erteilung der Zustimmung vorgelegt wurde; die Zustimmung wurde allerdings fast nie verweigert.
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Während der Zweiten Republik erließ der Conseil d’État, der durch die Verfassung von 1848 erheblich umgestaltet worden war, das Urteil selbst. Die Verfassung schuf ein Tribunal des conflits, das sich je zur Hälfte aus Mitgliedern des Conseil d’État und der Cour de cassation zusammensetzte und anstelle des Conseil d’État die Zuständigkeitskonflikte beilegte. Nach dem Staatsstreich des prince-président Louis-Napoléon Bonaparte erlangte der Conseil d’État diese Kompetenz im Jahre 1852 zurück; allerdings wurde zugleich das System der „justice retenue“ wiederhergestellt. Es verschwand mit dem Gesetz vom 24. Mai 1872: Der Conseil d’État entschied nunmehr „souverän“ über die ihm vorgelegten Beschwerden. Die Zuständigkeitskonflikte hingegen wurden erneut vor ein paritätisch besetztes Tribunal des conflits gebracht.[14]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 43 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Frankreich › III. Die Etablierung des Verwaltungsrechts in der traditionellen französischen Verwaltung (1800–1914)
III. Die Etablierung des Verwaltungsrechts in der traditionellen französischen Verwaltung (1800–1914)
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Die Verwaltung wurde schon zu Beginn des Konsulats durch das Gesetz vom 28. Pluviôse des Jahres VIII (17. Februar 1800) umfassend neu organisiert. Zugegebenermaßen hielt dieses Gesetz an den beiden grundlegenden territorialen Gliederungseinheiten fest, den Departements und den Kommunen. Es zwang jedoch auch zu einer extremen Zentralisierung, da Napoleon die Verwaltung zu einem effizienten Instrument zur Festigung und Durchsetzung seiner persönlichen Macht formen wollte. In dem Gesetz wurde die Vormachtstellung der Bediensteten der Zentralverwaltung im Verhältnis zu denjenigen Organen verankert, welche die adminstrés repräsentierten.
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Die Schlüsselrolle kam dem Präfekten (préfet) des Departements zu. Er war, was seinen Status anbelangte, vollständig von Napoleon abhängig. Napoleon ernannte ihn und konnte ihn nach Belieben versetzen oder absetzen. Der Präfekt war an die Weisungen der Minister gebunden und musste deren Ausführung sicherstellen und überwachen. Er vertrat die nationalen Interessen auf der Ebene des Departements. Er leitete auch die eigenen Verwaltungsgeschäfte des Departements und übte Autorität über die anderen „Bediensteten des Gouvernement“, d.h. die Unterpräfekten (sous-préfets) und die Bürgermeister (maires), aus. Das staatliche Handeln erfolgte durch diese einzelnen Personen, nämlich den Präfekten, den Unterpräfekten und den Bürgermeister. Das Prinzip monokratischer Verwaltungsstrukturen stützte sich auf die Aussage des für die Ausarbeitung des Gesetzesentwurfs zuständigen Mitglieds des Conseil d’État: „Das Verwalten soll die Sache einer einzelnen Person sein, das Rechtsprechen die Sache mehrerer“[15]. Die Gremien, die zur Repräsentation der administrés eingerichtet worden waren, verfügten lediglich über sehr beschränkte Befugnisse.
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Der Präfekt war Vorsitzender des Conseil de préfecture, der sich aus einigen Mitgliedern zusammensetzte, die von Napoleon ernannt und von ihm auch wieder abgesetzt wurden. Als Conseil d’État im Miniaturformat hatte dieses Organ eine doppelte Funktion: auf der einen Seite eine beratende und auf der anderen eine gerichtliche. Es entschied unter Vorbehalt in Streitfällen, für die vorher die Verwaltungsbehörden des Departements zuständig gewesen waren, und sehr bald wurde die Möglichkeit eingeräumt, gegen seine Entscheidungen vor dem Conseil d’État Rechtsmittel einzulegen.
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Diese extrem zentralisierte Verwaltung wird zutreffend als die „klassische französische Verwaltung“ bezeichnet. In ihrem Rahmen entstand das französische Verwaltungsrecht.[16] Ausgehend vom Konsulat fand eine Entwicklung der Verhältnisse zwischen der Verwaltung und den administrés statt, die genau entgegengesetzt zu derjenigen während der Revolution zu verlaufen schien. Das Phänomen, das als erstes hervorsticht, ist die Ausweitung der Sonderrechte der Verwaltung.[17] Zum Ausgleich wurden den administrés nach und nach rechtliche Garantien zugebilligt.
1. Die Ausweitung der Sonderrechte der Verwaltung
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Die Ausweitung der Sonderrechte der Verwaltung nahm unterschiedliche Formen an. Sie erfolgte vor allem über eine Einschränkung gewisser Freiheiten (die Religionsfreiheit wurde allerdings durch das Konkordat von 1801 wieder eingeführt). Sie manifestierte sich auch in der untergeordneten Stellung der Vertragspartner der Verwaltung, in dem Zugriff auf das Privateigentum und in der „Garantie der Beamten (garantie des fonctionnaires)“.
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Die Beschränkung individueller Freiheiten kam in zwei verschiedenen Aspekten zum Ausdruck. Sie bestand zunächst darin, dass die administrés zu persönlichen Dienstleistungen herangezogen wurden, was unter den euphemistischen Begriff der „Naturalabgaben (prestations en nature)“ gefasst wurde. Ferner zeigte sie sich in einer Stärkung der Befugnisse der Polizei zu Lasten der Freiheit von Handel und Industrie und insbesondere der Meinungsäußerungsfreiheit.
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Im Bereich der öffentlichen Verträge hatte die verstärkte Fokussierung auf das allgemeine Interesse drei Auswirkungen: Die Verwaltung wurde frei, mit denjenigen Leistungsanbietern, die sie vorzog, vertragliche Beziehungen einzugehen, was es ihr ermöglichte, die Angebote von Unternehmern, die sich noch