Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
„Die Genese des modernen Staates“ ist in Frankreich seit 1984 Gegenstand eines Forschungsprojekts des Centre National de Recherche Scientifique, aus dem zahlreiche Studien und Publikationen hervorgegangen sind, insbesondere solche aus der Feder von Mediävisten. Diese vertreten die Ansicht, dass die „Genese“ des modernen Staates im Kontext miteinander verbundener Prozesse zu sehen ist, die seit den Jahren 1280 bis 1360 in den Königreichen Westeuropas, insbesondere in Frankreich, das Heranreifen einer Gestalt des Staates ermöglicht haben. Auch wenn es im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich ist, auf Einzelheiten näher einzugehen, erscheint es angebracht, dass die Studien über die Konzeptionen des öffentlichen Rechts im 13., 14. und 15. Jahrhundert Erwähnung finden, die sich auf zeitgenössische theoretische Werke und Gerichtsentscheidungen stützen. Diese Studien haben zu einem besseren Verständnis der Verwendung des reichhaltigen Arsenals an römischem politischem Vokabular sowie der Kreativität der Kanonisten geführt.[1]
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Notwendige Voraussetzung dafür, dass der Staat in Erscheinung treten konnte, war, dass die Monarchie ihren patrimonialen Charakter aufgab. Präziser formuliert musste es zu einer konzeptionellen Trennung zwischen der Herrschaft, die über das Territorium des regnum und über die Untertanen ausgeübt wurde, einerseits und der Person, die diese Herrschaft verkörperte, dem König aus dem Hause der Kapetinger, dem Rex Francorum, andererseits kommen. Es lässt sich feststellen, dass die Krone seit dem Spätmittelalter als eine übergeordnete Entität verstanden wurde, die sowohl von der Person des Monarchen als auch von dem Königreich als territorialer Einheit unterschieden wurde. Das Konzept der Krone spielte eine Schlüsselrolle in der monarchischen Doktrin. Dies war zurückzuführen auf dynastische Krisen, die ab dem Jahre 1316 durch den Tod mehrerer Könige ohne männlichen Thronfolger ausgelöst worden waren, und auf die Suche nach juristischen Argumenten, mit denen dem von Eduard III. von England geltend gemachten Anspruch auf den französischen Thron begegnet werden konnte.[2]
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Der langatmige mittelalterliche Entwicklungsprozess mündete im 16. Jahrhundert in die Geburt des Staates stricto sensu, dessen Bedeutung sich orthographisch darin widerspiegelte, dass der französische Terminus „État“ zunehmend groß geschrieben wurde. Der Begriff des Staates wurde von nun an nicht mehr nur zur Beschreibung eines Zustands oder einer sozialen Ordnung verwendet, sondern darüber hinaus auf die souveräne Autorität, welche über die Einheit von Volk und Territorium ausgeübt wird, erstreckt. Diese semantische Evolution hängt mit den politischen Entwicklungen der damaligen Epoche zusammen. Der Machtzuwachs der Monarchie – zusammen mit dem Anstieg ihrer finanziellen Forderungen – waren in Frankreich, das vor den Religionskriegen noch prosperierte, deutlich zu spüren. Die Religionskriege brachten Fragen in Bezug auf die Legitimität von Herrschaft mit sich, die teils durch die religiösen Verfolgungen, teils durch die Thronbesteigung eines Protestanten, Heinrich von Navarra, aufgeworfen wurden, der zum katholischen Glauben konvertierte, um in Paris, der Hauptstadt des französischen Königreiches, Einzug halten zu können. Auf wissenschaftlichem Gebiet trat Jean Bodin für eine neue Definition der Souveränität ein: die Macht, Gesetze zu machen und abzuschaffen; diese sollte sich gegenüber der Aufzählung der traditionellen Merkmale königlicher Herrschaft durchsetzen.[3]
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Neben der Trennung zwischen der souveränen Macht und der Person ihres Inhabers wird für die Existenz des Staates bisweilen auf ein weiteres Kriterium abgestellt: das Bestehen „einer kohärenten, komplexen, effizienten und sich auf alle Bereiche erstreckenden Verwaltung“[4]. Diese zusätzliche Anforderung bereitet keine Schwierigkeiten im Falle Frankreichs, das sich als ein Nationalstaat darstellt, der aus einer Monarchie hervorging, die nach absoluter Macht strebte und dazu auf die Effizienz ihrer Bediensteten angewiesen war.
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Diese Bediensteten waren ursprünglich einfache Repräsentanten des Königs in den zu seinem Herrschaftsgebiet gehörenden Territorien, Vögte (prévôts), die zugleich richterliche und administrative Funktionen inne hatten. Dem Beispiel der englischen Könige folgend, die damals auch Herzöge der Normandie waren, wurden gegen Ende des 12. Jahrhunderts zur Kontrolle der prévôts und zur Durchführung von Gerichtsverhandlungen königliche Gesandte eingesetzt. Ab dem Jahre 1260 wurden diese Amtmänner (baillis) zu territorialen Bediensteten, die über bestimmte Verantwortungsbereiche verfügten. Sie waren vollständig vom König abhängig, der sie nach Belieben von einem Bereich in den anderen versetzen konnte. Nicht anders erging es ihren Äquivalenten in den annektierten Provinzen Südfrankreichs, den Seneschalls (sénéchaux). Dabei handelte es sich um Männer, die von niederem Adel oder bürgerlicher Abstammung waren und von denen viele Rechtswissenschaften studiert hatten. Sie vertraten den König in Bezug auf sämtliche seiner justiziellen und administrativen Prärogativen. Sie beaufsichtigten sowohl die prévôts als auch die lokalen Herrscher und die kommunalen Amtsträger derjenigen Städte, welche sich von den herrschaftlichen Strukturen emanzipiert hatten. Diese Städte wurden dank einer geschickten Auslegung römischer Texte Minderjährigen gleichgestellt, was es möglich machte, die königliche Vormundschaft, die über sie ausgeübt wurde, zu rechtfertigen. In Paris ernannte der König allerdings mit Bedacht keinen bailli, der eine intermediäre Stellung zwischen ihm und seinem prévôt eingenommen hätte. Dieser kontrollierte die Aktivitäten der Hanse der Kaufleute (Hanse des marchands), einer mit begrenzten Befugnissen ausgestatteten Stadtverwaltung. Die Ämter der prévôts, baillis und sénéchaux blieben bis zum Ende des Ancien Régime bestehen, auch wenn ihre Rolle im Laufe der Zeit an Bedeutung verlor.
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Gegen Ende des Ancien Régime war die Schlüsselperson der königlichen Verwaltung in den Provinzen nicht mehr der gouverneur, der Mitglied des Hochadels war und dessen Rolle vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zur Herrschaft Ludwig XIV. von so großer Bedeutung war, dass sie die Einheit des Reiches zunächst während der Religionskriege und später während der Fronde gefährdete. Maßgeblich war vielmehr der Intendant (intendant), der jeweils einer der 33 als „généralités“ oder „intendances“ bezeichneten Verwaltungseinheiten des Reiches vorstand. Der intendant war Mitglied im königlichen Rat (Conseil du roi) und bekleidete dort das Amt eines Requetenmeisters (maître des requêtes). Er war von seiner Ausbildung her Jurist, genoss jedoch nur den Status eines commissaire: Der König, der ihn ernannte, konnte ihn nach Belieben versetzen oder seines Amtes entheben. Seine Befugnisse wurden in der für ihn zuständigen „commission de justice, police et finance“ festgelegt.[5] Er hatte dafür Sorge zu tragen, dass die Rechtspflege gut funktionierte. Er war für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sowie für die Überwachung der wirtschaftlichen Aktivitäten und der Religionsausübung zuständig. Er kümmerte sich um das öffentliche Bauwesen, die Stadtentwicklung und den Ausbau der Verkehrswege. Er trug die Verantwortung für die Verpflegung und Unterbringung der Truppen. Er beteiligte sich an der Verwaltung von Universitäten, höheren Schulen und Heimen. Er übte die Vormundschaft über die Städte und Gemeinden aus. Er war für die Steuererhebung zuständig und überwachte das Steueraufkommen. Schließlich sprach er Recht in einem Großteil der administrativen und fiskalischen Streitverfahren. Seine Entscheidungen konnten, unabhängig davon, ob sie rein administrativer oder streitentscheidender Natur waren, nur vor dem Conseil du roi angefochten werden.
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Da die intendants mit außerordentlich umfangreichen Befugnissen ausgestattet waren, die bei Bedarf noch erweitert werden konnten, sahen sie sich der Feindseligkeit der althergebrachten Entscheidungsträger ausgesetzt, die von Anfang an sowohl justizielle als auch administrative Funktionen wahrgenommen hatten: der Parlements, bei denen es sich um Gerichtsinstanzen des gemeinen Rechts handelte, die den bailliages und sénéchaussées übergeordnet waren, der Chambres des comptes, die als Rechnungshöfe eingesetzt waren, der Cours des aides, die für steuerliche Angelegenheiten zuständig waren, und der Bureaux des finances,