Ius Publicum Europaeum. Andrzej Wasilewski
Verwaltung eine besondere legitimatorische und praktische Bedeutung. Zu der in Europa singulären eigenen Disziplin einer Policeywissenschaft kam es nach systematisierenden Anfängen im 17. Jahrhundert nicht zuletzt durch die Einrichtung entsprechender, den philosophischen Fakultäten zugeordneter Lehrstühle, zunächst in Halle und Frankfurt/Oder (1727), und das Erscheinen einschlägiger Lehrbücher. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts verselbständigte sich die Policeywissenschaft allmählich gegenüber der staatswirtschaftlichen Kameralistik und Privatökonomie und fand ihren ersten Systematiker in Johann Heinrich Gottlob von Justi. Dessen „Grundsätze der Policey-Wissenschaft“ (11756) erklärten allerdings zunächst noch in kameralistischer Weite und Anlehnung an die Eudämonielehre von Christian Wolffs Natur- und Vernunftrecht die staatliche Wohlfahrtspflege zur Aufgabe der Policey, wenn auch zunehmend unter Aufbrechung der Vorstellung einer gemeinschaftlichen Glückseligkeit von Fürst und Volk zugunsten des Glücks der Bürger.[4] Dagegen band der nächst von Justi bedeutendste Polizeiwissenschaftler des 18. Jahrhunderts, der dem habsburgischen Absolutismus verhaftete Joseph von Sonnenfels, in seinem Hauptwerk „Grundsätze der Policey“ (51787) die Policey an einen, wenn auch weit gefassten Sicherheitszweck.
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Speziell dem Policeyrecht als eigenem Fach widmete sich erstmals der von Montesquieu beeinflusste Altdorfer Rechtslehrer Johann Heumann von Teutschenbrunn in seinem 1757 erschienenen Werk „Initia Iuris Politiae Germanorum“, das die Natur der Policeygesetze, ihre Quellen und Geschichte untersuchte, um sodann die auch zuvor schon in Sammlungen zusammengestellte und inzwischen ungeachtet ihrer Gemachtheit und damit Veränderlichkeit als Recht begriffene Normenmasse nach Sachgebieten unter Unterscheidung von Policey- und Justizsachen juristisch zu systematisieren.[5] Die große Summe der sich wissenschaftlich etablierenden juristischen Disziplin lieferte an der Wende zum 19. Jahrhundert, im Übergang vom aufgeklärten Absolutismus zum liberalen Rechtsstaat und konstitutionellen System Günther Heinrich von Berg mit seinem „Handbuch des Teutschen Policeyrechts“ (1799–1809).[6] Dort wurde zwar die Wohlfahrtspolicey der Sicherheitspolicey unterstellt, sie aber trotz Kants wirkmächtiger Kritik jeder empirisch bedingten Glückseligkeit nicht verabschiedet, weil von Berg die Policey als „Schutzmacht des bürgerlichen Handels und Wandels“ begriff.[7] Der Wohlfahrtszweck war auf die Bekämpfung künftiger gemeinschädlicher Übel beschränkt, Eingriffe in die bürgerliche Freiheit nur im Rahmen der Verfolgung rechtmäßiger Zwecke zulässig und der Bereich der Justiz rechtsstaatlichen Postulaten folgend ausgeweitet.[8]
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Entgegen der radikalliberalen Beschränkung des Staates auf den Rechtszweck wirkte der pragmatische Altliberale Robert von Mohl in seinem staatswissenschaftlich ausgerichteten Werk „Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates“ (1832/1833) im Vormärz auf eine Synthese von wohlfahrtsstaatlicher Polizei, gerade auch mit Blick auf die soziale Frage, und einer formal wie material ausgeformten Rechtsstaatlichkeit hin. So „taufte er den verketzerten Polizeibegriff mit liberalem Wasser“.[9] Zweck des Rechtsstaates sei es neben der Freiheitssicherung liberal-formaler Lesart, auch den Bürgern „Schutz und Unterstützung“ zu gewähren, physisch durch die „Medicinal-“ und die „Armen-Polizei“, geistig durch „Förderung der Verstandesbildung“, der „sittlichen“ und der „religiösen Bildung“. Neu ist die Verknüpfung mit einem als freiheitssichernd konzipierten rigorosen Subsidiaritätsprinzip. Zum Schutz der Freiheit der Bürger fügte von Mohl die Verwaltung in das System des konstitutionellen Staatsrechts ein,[10] band sie bei Neuregelungen eines Rechtsverhältnisses an ein unter Mitwirkung der Volksvertretung zustande gekommenes Gesetz[11] und wollte sie, einem zunächst wirkungslos gebliebenen zeitgenössischen Ansatz folgend, einer eigenständigen Administrativjustiz unterworfen sehen. Hatte Heumann der Sache nach allenfalls Vorformen des Verwaltungsrechts behandelt, von Berg um 1800 eine Gesamtdarstellung des „von nun an so genannten Administrativ- oder Verwaltungsrechts“[12] vorgelegt, so gilt spätestens der zweite Band von Robert von Mohls „Staatsrecht des Königreiches Württemberg“ (1831) als wissenschaftlich bedeutsame Darstellung des Verwaltungsrechts, wobei Verfassungs- und Verwaltungsrecht unter dem gemeinsamen Dach des Staatsrechts einander zugeordnet werden.[13] Parallel zur Entstehung der Verwaltungsrechtswissenschaft aus der Policeywissenschaft vollzog sich in der Ausbildung zur höheren Staatsverwaltung eine Abwertung der kameralistischen zugunsten rein juristischer Inhalte, wobei allerdings in der Juristenausbildung das Zivilrecht dominierte und Staats- wie Verwaltungsrecht eine Nischenexistenz führten.[14]
2. Verengung zum rechtswissenschaftlich-dogmatischen Verwaltungsrecht
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Auch nach dem Scheitern der Frankfurter Paulskirchenverfassung (1849) hat sich die Rechtsstaatsidee im liberalen Bürgertum erhalten und drängte nun, abgelöst von der politischen Verfassungsfrage und dem Anspruch demokratischer Partizipation, auf eine Beschränkung der Staatsgewalt gegenüber dem Einzelnen. Wegweisend schied Carl Friedrich von Gerber (1865) das Verwaltungsrecht aus dem Staatsrecht aus, wollte es dann „in seiner Selbständigkeit erkannt“ wissen und erklärte, wenn „der Begriff des Rechtsstaats irgend eine reelle Bedeutung hat, so ist sie gerade die, dass mehr und mehr auch auf dem Gebiete der Verwaltung feste rechtliche Bestimmungen gegeben werden, welche der Willkür den Boden entziehen“.[15] Bereits 1856 war auf gesetzespositivistischer Grundlage Josef Pözls „Lehrbuch des bayerischen Verwaltungsrechts“ erschienen, worauf aus württembergischer Perspektive, aber mit gemeindeutschem Anspruch unter Übernahmen aus dem französischen Verwaltungsrecht Friedrich Franz Mayers „Grundzüge“ (1857) und „Grundsätze des Verwaltungsrechts“ (1862) folgten, die zunächst kaum rezipierte Ansätze der Aufstellung eines Systems der Rechtsinstitute und eines Allgemeinen Teils erkennen lassen.[16] Rechtsvergleichung bezog Mayer zwar primär auf die deutschen Einzelstaaten, rezipierte dabei gleichwohl etwa mit Gabriel Dufours „Traité général de droit administratif appliqué“ (11843–1846; 21854–1857) Literatur, die Jahrzehnte später auch noch Otto Mayer heranziehen sollte. Für die Etablierung des Faches bedeutsam war die Einrichtung von verwaltungsrechtlichen Lehrstühlen, in Württemberg 1842, in Preußen 1881 einsetzend, und einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, ab 1863 in Baden und ab 1872 in Preußen, die Entstehung einer verwaltungsrechtlichen Zeitschriftenlandschaft und die zunehmende Publikation einschlägiger Darstellungen, unter anderem aus der Feder von Ernst von Meier, Georg Meyer, Otto von Sarwey, Edgar Loening und Karl Freiherr von Stengel,[17] die mehr oder minder das juristische neben dem staatswissenschaftlichen Moment herausstellten und die Gliederung nach dem Ressortprinzip durch ein abstrakteres Unterteilungsprinzip ersetzten.
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Den erratischen Versuch, die Weite der alten Polizeiwissenschaft in einer modernen Verwaltungslehre fortzuschreiben, unternahm der hegelianisch inspirierte Gesellschaftstheoretiker Lorenz von Stein (Die Verwaltungslehre, 7 Theile, 1865–1868), der in seinem Konzept eines sozialen Königtums die Verwaltung als den tätigen, arbeitenden Staat mit einer Korrektivfunktion gegenüber der Gesellschaft ausstattete. Da das Verwaltungsrecht dabei „aus dem Wesen des zu Verwaltenden“ zu bilden sei,[18] konnte ihmzufolge die Verwaltungsrechtswissenschaft lediglich als unselbständiges „Correlat der Verwaltungslehre“ begriffen werden, wenngleich ausgebildet zu einem „System des verfassungsmäßigen Verwaltungsrechts“.[19] Programmatisch sprach von Stein von einem europaweit „vergleichenden Verwaltungsrecht“ und schichtete einen die Organe und Prinzipien betreffenden „allgemeinen Theil“ von einem auf die Verwaltungsgebiete und -aufgaben bezogenen „besonderen Theil“ ab.[20] Seinem gemeineuropäischen Ansatz zufolge nahm er dabei die Verhältnisse zahlreicher europäischer Staaten in den Blick, etwa in dem 1876 in zweiter Auflage erschienenen „Handbuch der Verwaltungslehre mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England, Deutschland und Österreich“ oder noch ausgreifender in dem seit 1860 erscheinenden „Lehrbuch der Finanzwissenschaft“, in dem in der fünften und letzten Auflage 1885/1886 darüber hinaus auch Italien und Russland in die Darstellung einbezogen wurden. Nicht ohne ein gewisses nationales Selbstbewusstsein sah von Stein dabei die deutsche Verwaltungstätigkeit als eine Art gelungene Synthese