Ius Publicum Europaeum. Andrzej Wasilewski
im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin
I.Notwendigkeit und Eckpunkte einer disziplinären Neuaufstellung1 – 14
1.Grundbegriffliche Mutationen1 – 5
2.Leitende Thesen6 – 9
3.Verwaltungsrechtsvergleichung10 – 14
II.Drei Momente disziplinärer Identität15 – 64
1.Verwaltungsrecht als Sonderrecht von Hoheitsträgern15 – 40
b)Unionsverwaltungsrecht als Sonderrecht24 – 40
aa)Sonderrechtscharakter des Integrationsrechts insgesamt?24 – 29
bb)Zum Sonderrechtscharakter des Unionsverwaltungsrechts30 – 35
cc)Herausforderungen dieses Sonderrechtsverständnisses36 – 40
2.Verwaltungsrechtswissenschaft ex parte civium41 – 51
b)Zur disziplinären Ausrichtung im europäischen Rechtsraum50, 51
3.Dogmatik als Kernaufgabe52 – 64
b)Aufgaben im europäischen Rechtsraum59 – 64
III.Verwaltungsrechtswissenschaft als Teil des neuen ius publicum europaeum65 – 69
1.Pluralismus65, 66
2.Identitätsprobleme und -arbeit67 – 69
Einführung › § 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin › I. Notwendigkeit und Eckpunkte einer disziplinären Neuaufstellung
1. Grundbegriffliche Mutationen
1
Die Phase der Europäisierung der nationalen Verwaltungsrechte ist beendet, denn sie hat zu einem europäischen Rechtsraum geführt. Mehr noch als die Europäisierung übt dieser Rechtsraum[2] Transformationsdruck auf die nationalen Wissenschaften des Verwaltungsrechts aus und drängt zu einer disziplinären Neuaufstellung, die rechtsvergleichend im Lichte der großen Traditionen erfolgen sollte.[3] Dieser Druck wurde zunächst bei einzelnen Rechtsinstituten festgestellt.[4] Für das disziplinäre Selbstverständnis erscheint jedoch weit einschneidender, dass die Grundbegrifflichkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtsordnungen erodiert.[5]
2
Die Beiträge dieses Bandes zeigen, dass sich das Verwaltungsrecht und seine Wissenschaft in den meisten EU-Mitgliedstaaten unter Bezug auf eine überwölbende Staatlichkeit ausbildeten. Der europäische Rechtsraum wird aber von unterschiedlichen Verwaltungen administriert, die nicht zu der einen Verwaltung eines Verbands und schon gar nicht unter der überwölbenden Einheit eines Staates zusammenfinden. Es ist vielmehr eine weit losere und vielgestaltige Formation von Bürokratien unterschiedlicher Träger entstanden,[6] welche deutsche und spanische Autoren oft als Verwaltungsverbund (Verwaltungsunion) bezeichnen;[7] Autoren anderer Traditionen nutzen Begriffe wie administration mixte, coadministration oder integrated administration.[8] Dieser Formation unterliegt das europäische Verwaltungsrecht, das nicht allein aus dem Unionsverwaltungsrecht besteht, sondern zudem das unionsrechtlich überformte mitgliedstaatliche Verwaltungsrecht sowie solche Normen umfasst, welche die Mitgliedstaaten autonom zur administrativen Bewältigung des europäischen Rechtsraums erlassen.[9] Dieses europäische Verwaltungsrecht lockert zugleich, und dies verschärft die Problematik, das Band einer Verwaltungseinheit zu „ihrem“ Staat: Eine deutsche Stelle, die einen Sachverhalt im Verbund mit ausländischen Stellen und bisweilen gar mit extraterritorialen Wirkungen administriert, sieht sich in neue Kollektive eingebunden.[10] Zudem verlangen wichtige unionale Rechtsakte eine Autonomisierung bestimmter Verwaltungseinrichtungen gegenüber anderen staatlichen Stellen; Art. 130 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken verlangt, ist nur ein Beispiel.[11] Die überkommene engste Zuordnung der Begriffe Staat und Verwaltung kann keinen Bestand haben.
3
Erst recht setzt der Begriff Unionsverwaltungsrecht, der die unionsrechtliche Schicht und das dynamische Herz des europäischen Verwaltungsrechts bezeichnet, die Loslösung des Begriffs des Verwaltungsrechts von demjenigen des Staates voraus. Die Europäische Union ist ein eigener Verwaltungsträger, bildet aber nach ganz herrschendem Verständnis keinen Staat; dies ist der Grundnenner der politischen und wissenschaftlichen Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte.[12] Wenn gleichwohl heute eine Fülle von Büchern ganz selbstverständlich von einem europäischen Verwaltungsrecht und einem Unionsverwaltungsrecht ausgehen,[13] also einschließlich der Konstellation, in der Organe der Union Rechtsnormen gegenüber privaten Rechtssubjekten anwenden (sog. EU-Eigenverwaltung), so zeigt dies eine Begriffsentwicklung, die den Begriff der Verwaltung und des Verwaltungsrechts vom Staatsbegriff gelöst hat. Dieses Verständnis wird inzwischen durch das positive Recht vielfach bestätigt, etwa Art. 41 der Grundrechte-Charta (GRC).
4
Die Verwendung des Begriffs Verwaltungsrecht mit Blick auf die Europäische Union zeigt weiter, dass das klassische Gewaltenteilungsdenken, ein weiterer Eckpunkt disziplinären Selbstverständnisses, nicht mehr trägt. Letzteres beruht auf einer engen Koppelung von Organ und Funktion und begreift die Verwaltung in Abgrenzung einerseits zur gerichtlichen Streitentscheidung, andererseits zur parlamentarischen Legislative.[14]