Ius Publicum Europaeum. Andrzej Wasilewski
ein, in dem sich der administrative Zweckverband Hans Peter Ipsens[67] demokratisiert und parlamentarisiert. Für den europäischen Rechtsschutz ist festzuhalten, dass über die Jahre der Zugang zum EuGH erleichtert und Asymmetrien in dessen Beurteilungen mitgliedstaatlichen und europäischen Rechts abgebaut wurden.[68] Zudem nehmen in den meisten Mitgliedstaaten die Höchstgerichte eine Kompetenz für sich in Anspruch, unionale Akte an verfassungsrechtlichen Maßstäben zu messen und im Extremfall unangewendet zu lassen.[69]
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Mit Blick auf die wissenschaftliche Disziplinenbildung ist festzuhalten, dass das Fach Europarecht, das die gesamte Rechtsentwicklung in der Europäischen Union begleitet und die Disziplin dieses Sonderrechts sein könnte, massiven Erosionsprozessen unterliegt. Anders als noch vor 20 Jahren kann ein Wissenschaftler heute kaum noch die gesamte europäische Rechtsentwicklung im Blick haben. Vielmehr kommt es zu einer disziplinären Auffächerung, und zwar entlang der etablierten mitgliedstaatlichen Disziplinen: So verfestigen sich zunehmend spezifische akademische Fächer zum europäischen Privatrecht, europäischen Strafrecht, europäischen Verfassungsrecht und eben Unionsverwaltungsrecht, Letzteres bestehend aus dem Recht der EU-Eigenverwaltung sowie den unionsrechtlichen Vorgaben für die mitgliedstaatlichen Verwaltungen (auch als Gemeinschaftsverwaltungsrecht bezeichnet).[70]
bb) Zum Sonderrechtscharakter des Unionsverwaltungsrechts
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Kann das Verständnis des Verwaltungsrechts als Sonderrecht heute für das Unionsverwaltungsrecht als Teil des Rechts der Europäischen Union erkenntnisträchtig und identitätsprägend sein? In jüngerer Zeit haben sich insbesondere Giacinto della Cananea,[71] aber auch Ute Mager und Eberhard Schmidt-Aßmann in diesem Sinne geäußert.[72] Die nachfolgenden Überlegungen knüpfen daran an, konturieren jedoch stärker den Herrschaftsaspekt im Verwaltungsrecht.
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Das Unionsverwaltungsrecht kann als ein Sonderrecht begriffen werden, da es seine prägende Mitte darin findet, Bürokratien mit spezifischen Herrschaftsinstrumenten zur Regelung und sogar Steuerung individueller Freiheit auszustatten. Die entsprechenden Instrumente bürokratischer Regelung und Steuerung, also Herrschaft, sind als solche bekannt. Sie können, dies ist eine der zentralen Lehren des 20. Jahrhunderts, demokratischer Selbstbestimmung und individueller Entfaltung ebenso dienen wie autoritärer Fremdbestimmung und paternalistischer Gängelung. Genau dies beschreibt die wesentliche Herausforderung des Verwaltungsrechts als Disziplin und enthält damit einen Identitätsentwurf.
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Ein einfacherer Weg zur Bestimmung des Unionsverwaltungsrechts als Sonderrecht wäre es, an der Kontrollzuständigkeit einer besonderen Gerichtsbarkeit anzuknüpfen. Dieses Kriterium funktioniert ausgezeichnet, soweit das Unionsrecht einer mitgliedstaatlichen Durchführung bedarf,[73] und zwar sogar mit Blick auf das Vereinigte Königreich.[74] Für die Eigenverwaltung der Union ist es jedoch wenig leistungsfähig. Dass allein der EuGH als Organ kompetent ist, über die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen europäischer Organe zu entscheiden, trägt nicht die Qualifizierung eines Teilbereichs des Unionsrechts als Verwaltungsrecht, da er für das gesamte Unionsrecht zuständig ist.[75]
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Das Kriterium gerichtlicher Zuständigkeit ist vor allem wenig hilfreich, um „Wesen“ oder „Identität“ des Verwaltungsrechts zu identifizieren. Sucht man dafür nach Ansatzpunkten im positiven Recht, so stößt man auf Art. 41 GRC, der ein Recht auf eine gute Verwaltung niederlegt. Nach dieser Norm steht das individualisierende, insbesondere belastende einseitige Handeln von Hoheitsträgern gegenüber privaten Personen im Mittelpunkt des Verwaltungshandelns und damit des Verwaltungsrechts; dies bestätigt Art. 47 GRC aus einer Rechtsschutzperspektive. Damit kommt es auf rechtliche Über- und Unterordnung an, also Herrschaft. Dieses Verständnis dürfte entscheidend für die Etablierung des Begriffs europäisches Verwaltungsrecht in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gewesen sein: Zum einen entfaltete die Kommission selbst zunehmend bürokratische Macht gegenüber privaten Rechtssubjekten, etwa im Wettbewerbsrecht, zum anderen determinierte das Gemeinschaftsrecht, insbesondere das Agrarmarktrecht, mitgliedstaatliches Verwaltungshandeln in so dichter Weise, dass die verbleibenden Gestaltungsspielräume der mitgliedstaatlichen Verwaltungen zu gering waren, als dass mit deren Nutzung legitimatorische Erwartungen erfüllt werden konnten, die sich aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen speisten.[76] Zugleich stellte sich gerade mit Blick auf das Agrarmarktrecht die Frage, ob dieses bürokratische Steuerungsrecht effizient und effektiv war, alles Fragestellungen, die traditionell aus einer verwaltungsrechtlichen Perspektive zu bearbeiten sind. Dies bestätigt ein entschieden öffentlich-rechtliches Verständnis dieses Rechtsgebiets, das seine Mitte (wohlgemerkt: nicht seine Definition!) in der Frage findet, ob eine Norm zu einseitigen Akten ermächtigt, welche die Autonomie eines außerhalb der Verwaltung stehenden Rechtssubjekts beschränken.[77] Selbst wenn die Verwaltung zunehmend auch als Dienstleister und nicht allein als Herrschaftsträger begriffen wird,[78] bleibt danach der identitätsprägende Kern die Befugnis von Bürokratien zu einseitiger Regelung von Freiheitssphären.[79] Dem steht nicht entgegen, dass das Agrarmarktrecht in wesentlichen Teilen ein Subventionsrecht ist: Angesichts der Situation der Märkte können viele Erzeuger ihm kaum ausweichen, und in Rückforderungs- und Sanktionsfällen wird die herrschaftliche Dimension auch der europäischen Leistungsverwaltung vollends deutlich.
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Im Mittelpunkt dieses Zugangs steht stets der Begriff der öffentlichen Gewalt, dessen Funktion es ist, diejenigen Akte zu identifizieren, die Rechtssubjekte außerhalb der Verwaltung determinieren, d.h. ihre Freiheit in einer Weise beschränken, die legitimationsbedürftig ist und so nach einem öffentlich-rechtlichen Rahmen verlangt.[80] Dieser Ansatz findet im modernen politischen Denken, das ganz überwiegend die Freiheit zum Mittelpunkt erklärt, emphatische Bestätigung. Gestützt wird dieses Verständnis des Verwaltungsrechts positivrechtlich durch grund- und menschenrechtliche Verbürgungen sowie weitere Freiheitsrechte verfassungsrechtlicher Natur, so die Marktfreiheiten des AEU-Vertrags, die, wenngleich mit Unschärfen, zwischen dem hoheitlichen, insbesondere administrativen Bereich und dem Bereich privater Aktivität unterscheiden.
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Entsprechende Sonderrechtsregime von Kompetenzen, Verfahren, aber natürlich auch Pflichten gegenüber privaten Rechtssubjekten gibt es im Recht der Europäischen Union ebenso wie in allen Mitgliedstaaten, einschließlich des Vereinigten Königreichs.[81] Insofern haftet diesem „Sonderrecht“ der öffentlichen Gewalt gegenüber dem Einzelnen auch nicht automatisch das Odium des bürokratischen Bonapartismus an. Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihre verwaltungsrechtlichen Sonderrechtsregime für die Durchführung unionalen Rechts zu nutzen.[82] Die mitgliedstaatlichen Organe sind bei dieser Umsetzung funktional Organe der unionalen Rechtsordnung, also bei Erlass unionsrechtlich gebotener Rechtsakte, bei der Durchsetzung von Unionsrecht im Einzelfall, bei der gerichtlichen Kontrolle. Deshalb stellt das Fehlen von unionseigenen Zwangsmitteln den Sonderrechtscharakter des unionalen Verwaltungsrechts mit Blick auf private Rechtssubjekte nicht in Frage. Anders formuliert: So dialogisch der europäische Verwaltungsverbund unter den beteiligten Hoheitsträgern auch verfahren mag (dazu sogleich), gegenüber privaten Rechtsträgern agiert er primär als Herrschaftverbund. Der Sonderrechtscharakter des Unionsverwaltungsrechts beruht somit darauf, dass es bürokratische Apparate begründet oder aber mit Instrumenten ausstattet, die sie zu Institutionen der Herrschaft werden lassen. Wenngleich das Unionsverwaltungsrecht die Grundlage für zahlreiche Dienstleistungen, Informationsangebote und andere Wohltaten ist, so kann doch mittels der Kategorie des Sonderrechts ein Kern identifiziert werden, der sich in der Tradition öffentlich-rechtlichen Denkens als identitätsprägend für die Disziplin anbietet.
cc) Herausforderungen dieses Sonderrechtsverständnisses
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Das traditionelle Sonderrechtsverständnis