Ius Publicum Europaeum. Andrzej Wasilewski
Das ergibt sich vor allem aus dem Charakter des Unionsrechts. Wenngleich das Verwaltungsrecht der Europäischen Union nur ein Aspekt des europäischen Verwaltungsrechts ist, so ist es doch heute sein dynamisches Zentrum. Der Großteil des Unionsrechts ist ein Recht, das seine Steuerungswirkung erst über die Aktivitäten von Bürokratien, europäischen wie mitgliedstaatlichen, entfaltet: Das Unionsrecht ist überwiegend ein Recht, das Verwaltungen arbeiten lässt.[22] Entsprechend entwickelte sich im Zuge der Überwindung des völkerrechtlichen Paradigmas zunächst eine Wissenschaft, die das Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Verwaltungsrecht und in dieser Perspektive das Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten vergleichend untersuchte;[23] erst danach entstand eine ähnlich ausgerichtete Subdisziplin des europäischen Verfassungsrechts.[24]
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Zahlreiche weitere Gründe lassen sich anführen, warum nicht nur das europäische Verwaltungsrecht insgesamt, sondern auch spezifisch das Unionsverwaltungsrecht einer starken komparativen Komponente bedarf. Viele unionsrechtliche Regelungsmodelle sind nicht originär supranational ersonnen, sondern speisen sich mal aus der einen, mal aus der anderen nationalen Rechtsordnung: Oft ist nur mittels Rechtsvergleichung das Regelungsmodell eines europäischen Rechtsaktes oder die Entscheidung eines europäischen Gerichts zu durchdringen und die angestoßene Transformation des nationalen Rechts zu begreifen.[25] Des Weiteren verlangen viele Bestimmungen des Unionsrechts europäische Begegnung, Austausch und Kooperation sowohl zwischen den mitgliedstaatlichen Verwaltungen als auch zwischen mitgliedstaatlichen und unionalen Stellen. Bedenkt man allein die Zahl der involvierten administrativen Akteure, so wird anschaulich, dass es im europäischen Rechtsraum einen viel dichteren transnationalen verwaltungs- als verfassungsrechtlichen Diskurs gibt.
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Dieser Diskurs erfolgt vor dem Hintergrund der mitgliedstaatlichen verwaltungsrechtswissenschaftlichen Traditionen, die markante Unterschiede aufweisen. So entwickelt sich in Frankreich und Spanien das Verwaltungsrecht als öffentlich-rechtliche Königsdisziplin, in Deutschland hingegen im Kielwasser des Staatsrechts, die polnische Verwaltungsrechtswissenschaft blüht als Teil nationaler Identität sogar im Widerstand gegen Besatzer,[26] die Schweizer Verwaltungsrechtswissenschaft adaptiert die Kategorien des deutschen obrigkeitsstaatlichen Verwaltungsrechts für eine bürgerschaftliche Milizverwaltung.[27] Dies sind nur einige Beispiele für die zahlreichen Unterschiede, die das Selbstverständnis der Akteure ebenso wie ihre wissenschaftlichen Konstrukte bis heute prägen. Hier zeigt sich ein besonders dringliches Anliegen einer europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft: Ihre allgemeinen Lehren könnten, so wie bislang in den mitgliedstaatlichen Traditionen, den Rahmen bieten, der diesem gemeinsamen Diskurs Begriffe gibt, und vielleicht gar auf die Weltsicht, ja das Ethos der Akteure im Sinne des gemeinsamen Ganzen einwirken.[28] Dies verlangt jedoch ein gemeinsames Verständnis, worum es beim Verwaltungsrecht geht.
Einführung › § 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin › II. Drei Momente disziplinärer Identität
a) Rückblick
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Die Identität der Verwaltungsrechtswissenschaft ist, wie die Beiträge dieser Bände zeigen, in den meisten Ländern dadurch geprägt, dass sie ihren Gegenstand als ein Sonderrecht aus dem Phänomen der staatlichen Hoheitsgewalt begreift.[29] Der dominierende Ansatz sieht das Verwaltungsrecht als ein Sonderrecht des Staates, genauer: der staatlichen Exekutive. Entsprechend wird die Verwaltungsrechtswissenschaft vor allem in Abgrenzung zu dem auf Gleichordnung ausgerichteten Privatrecht begriffen. Dieses Verständnis ruht auf der alten, bereits im Corpus Iuris angelegten Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht[30] und ist oft mit den Zuständigkeitsbereichen unterschiedlicher Gerichtsbarkeiten verknüpft. Im europäischen Rechtsraum stellt sich die Frage, ob dieses Verständnis, welches bereits in den staatlichen Rechtsordnungen etwa aufgrund der sog. Privatisierung von Aufgaben und der Verwendung privatrechtlicher Instrumente unter Druck steht,[31] einen Begriff des Unionsverwaltungsrechts tragen kann.
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Einleitend ist festzuhalten: Moderne Hoheitsgewalt ist, wie das englische Beispiel zeigt, nicht auf eine Sonderrechtswissenschaft im traditionellen kontinentaleuropäischen Sinne angewiesen. Das Verständnis des Verwaltungsrechts als staatliches Sonderrecht und das entsprechende Verständnis der Disziplin sind Ausdruck eines spezifischen, keineswegs notwendigen Entwicklungspfades moderner Staatlichkeit. Sabino Cassese skizziert die Entwicklung der staatlichen Verwaltungen in Europa ausgehend von einem englischen und einem französischen Modell. Den französischen Typus kennzeichnet die Ausbildung einer hierarchischen zentralstaatlichen Verwaltung und eines entsprechenden Sonderrechts, mit dem dieser Apparat politische Ziele, genauer: Ziele seiner Spitze, verfolgt. Dieses Sonderrecht suspendiert zugunsten der Staatsverwaltung das allgemein geltende Recht und die Kontrollkompetenz der oft ständisch verhafteten Gerichte. In England hingegen unterbinden die frühe Parlamentarisierung und die „glorreiche“ Revolution von 1688 die Ausbildung einer solchen Bürokratie und eines Sonderrechts des obrigkeitlichen Privilegs.[32] Gewiss, die Royal Prerogatives und die Immunität der Krone sind Jahrhunderte alte Rechtsinstitute, die durchaus Ähnlichkeiten mit dem französischen Sonderrecht aufwiesen und weiterhin aufweisen,[33] sie begründen aber keine wissenschaftliche Disziplin. Selbst die späte wissenschaftliche Grundlegung der englischen Verwaltungsrechtswissenschaft im Verlauf des 20. Jahrhunderts erfolgt nicht zur Durchsetzung eines zentralstaatlichen Machtanspruchs.[34]
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Das englische Modell übt seit dem 18. Jahrhundert große Strahlkraft aus.[35] In den Staaten des Kontinents, die nicht die Kraft zu einer „glorreichen“ Revolution finden, setzt sich gleichwohl im 17. und 18. Jahrhundert das französische Modell durch. Der Siegeszug der Idee einer hierarchischen zentralstaatlichen Verwaltung wird in dem an Versailles orientierten Schlossbau vieler deutscher Landesherren oder von Monarchen in Spanien, Neapel oder Piemont veranschaulicht. Im Schatten dieses Modells bilden sich staatliche Bürokratien, deren Sonderrecht und, für unseren Zusammenhang besonders bedeutsam, entsprechende akademische Einrichtungen.
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Viele Fürsten richten im Prozess der Staatsbildung Universitäten ein und fördern eine ihren Herrschaftsanspruch stützende Rechtswissenschaft,[36] welche die kontinentaleuropäische Entwicklung einer „kompetenziell ausdifferenzierten, verschriftlichten, tendenziell normierten und bürokratischen sowie zunehmend verwissenschaftlichten Amtsführung“ begleitet.[37] Die Rechtswissenschaft an den fürstlichen Universitäten übernimmt die Sammlung und Ordnung des normativen Materials sowie die Ausbildung entsprechenden Verwaltungspersonals. Neben Dokumentation und Ausbildung tritt die Politikberatung: Professoren produzieren Schriften, welche der obrigkeitlichen Herrschaftsausübung Orientierung geben wollen. Es wird zum Staatszweck, mittels einer fähigen Zentralverwaltung Wirtschaft, Rechtssystem und Alltag der Bürger rational zu organisieren. Obwohl Frankreich das Staatsmodell vorgibt, ist die Wissenschaft des öffentlichen Rechts in Deutschland besonders entwickelt.[38] In diesem Rahmen setzen Kameralismus (Staatswirtschaftslehre) und später Policeyrechtswissenschaft europäische Maßstäbe.[39] Ein Grund hierfür ist die stärkere Verrechtlichung der Politik im föderal organisierten Heiligen Römischen Reich[40] im Vergleich zum absolutistischen Frankreich.
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Die Französische Revolution wird gemeinhin als große Zäsur begriffen.[41] Für das Sonderrecht des Staatsapparats bedeutet sie aber vor allem eine Radikalisierung vorheriger Entwicklungen. Die Französische Revolution und insbesondere Napoleon nehmen, wie Alexis de Tocqueville zeigt, die kontinentaleuropäische Tradition auf und vollenden sie.[42] Napoleon errichtet mit der Verfassung des Jahres VIII (1799) den Conseil d’État, die paradigmatische verwaltungsrechtliche