Ius Publicum Europaeum. Andrzej Wasilewski
Er hält es für „irrational“ und „unlogisch, die Disziplin auf die Gesamtheit der Regeln zu beschränken, die in die verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit fallen“. Wenn seine Untersuchung in ihrem Ergebnis auch nicht besonders originell ist, so ist sie es dennoch insofern, als sie von einem Juristen stammt, der sich den Theoretikern zurechnet und die Ansicht vertritt, dass „das Studium des positiven Rechts und die allgemeine Theorie das geltende Recht nicht auf dieselbe Weise betrachten, behandeln und verwenden.“ Demgemäß unterscheidet er juristische Konzepte, die ihren Ursprung im positiven Recht haben, von denen, die „Theorie und nichts als Theorie“ sind.[102] Wie schon im Verfassungsrecht, übte er auch im Verwaltungsrecht eine systematische Kritik an seinen Zeitgenossen, indem er „eine Form des juristischen Konstruktivismus“ entwickelte, die heute wenig gebräuchlich ist. Die Mehrheit der Lehre bleibt nach wie vor einer induktiven Methode treu, die vom geltenden Recht ausgeht.[103] Die Verwaltung, von der Eisenmann sprach, ist ein theoretisches Konstrukt, das von einem Strukturbegriff ausgeht; die verschiedenen Verwaltungsorgane bilden untereinander lediglich eine sehr relative und näherungsweise Einheit.[104] Was das Verwaltungsrecht anbelangt, so suchte er dessen Besonderheit in der Methode der Erzeugung und Anwendung von „Normen“. Dies ist ein vorher in Frankreich kaum gebrauchter Begriff, der sich heute jedoch in den normalen juristischen Sprachgebrauch eingebürgert hat.[105]
5. Das Verhältnis zwischen der Verwaltungsrechtswissenschaft und den Verwaltungswissenschaften[106]
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Die Veröffentlichungen des 19. Jahrhunderts mit ihrem Ehrgeiz, eine Verwaltungswissenschaft zu begründen,[107] sind nicht in Vergessenheit geraten. Alexandre-François-Auguste Vivien wurde noch in den 1960er Jahren ausgiebig zitiert, z.B. als Einführung in eine Vorlesung zur Verwaltungswissenschaft[108] im Rahmen von Ausführungen unter dem Titel „Verwaltungswissenschaften und Verwaltungsrecht“. Dabei wurde Frankreich den angelsächsischen Ländern gegenübergestellt: „In Frankreich haben die Beamten eine juristische Ausbildung, in den Vereinigten Staaten und Großbritannien nicht. In Frankreich ist der Rechtsgehorsam das bestimmende Element der Verwaltung, in Großbritannien ist es die Effizienz. Frankreich hat ein kohärentes System gerichtlicher Kontrolle, die angelsächsischen Länder haben dergleichen nicht.“ Man könnte nicht besser umschreiben, was die Auswirkungen eines essenziell juristischen Zugangs zu Phänomenen der Verwaltung waren. Im Unterschied zu Vivien gewöhnten sich die Verwaltungsrechtler mehr oder weniger an, die Verwaltungswissenschaft zu ignorieren, mit marginalen Ausnahmen wie den gerade erwähnten Vorlesungen. Das heißt aber nicht, dass nach 1873 jedes Streben nach Effizienz aufgegeben worden wäre. „Die Wissenschaft vom Verwaltungsprozess“, so das Fazit von Jacques Chevallier, wurde „ersonnen als eine Wissenschaft des Verwaltungshandelns, als Anleitung für die Verwaltung“.[109] Daher rührt die Auffassung, dass die Rechtsbindung der Verwaltung zwar in gewisser Weise zum Schutz der „Verwaltungsunterworfenen“ beitrug, in erster Linie aber als Mittel zur Beseitigung administrativer Fehlfunktionen gedacht war.
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Ungeachtet der Haltung in der Wissenschaft wurde jedoch im Rahmen der staatlichen Institutionen, selbst in der Zeit Haurious und Duguits, eifrig nach den besten Organisationsformen gesucht. In diesem Sinne veröffentlichte der Mineningenieur Henri Fayol 1917 das Werk Administration industrielle et générale. Kurz zuvor, im Jahre 1911, hatte Henri Chardon, Mitglied des Conseil d’État, das Buch Le pouvoir administratif verfasst. Diese Entwicklung muss im Zusammenhang mit der bereits erwähnten Entstehung des Ausbildungssystems der politisch-administrativen Eliten[110] gesehen werden, aber auch mit der häufig vereinfachenden und von den Realitäten der Verwaltung weit entfernten politischen Diskussion. So erklärt sich der beständige Aufstieg „technokratischer“ Vorstellungen innerhalb der „administrativen Gesellschaft“[111] und, als Gegenbewegung, einer „antitechnokratischen Ideologie“. Laut Pierre Rosanvallon[112] gab es in Frankreich nach 1945 eine reformorientierte keynesianische Technokratie, die mit dem Sozialstaat eine Art technisches Äquivalent zur Sozialdemokratie geschaffen hat. Sie sorgte für die Wirtschaftsplanung, die Konjunkturprognosen, die Sozialversicherung, kurzum ein Programm, das man anderswo als sozialdemokratisch qualifiziert hätte.[113]
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Wenn die Verwaltungsrechtswissenschaft diejenigen Wissenschaften ignoriert, welche die Umsetzung eines solchen Programms implizieren, so zahlen es ihr diese mit gleicher Münze heim. Allzu oft stimmten Letztere darin überein, dass sie die Verwaltungsrechtswissenschaft als zu vernachlässigende Größe ansehen durften, in Missachtung der von Pierre Legendre 1968 wiederholt vorgetragenen Warnung: „Gegenüber der Verwaltungswissenschaft stellt das Verwaltungsrecht gleichsam ein Widerstandsmoment dar; insofern ist es ein essenzielles Proprium, ein prägendes und unumgängliches Wesensmerkmal unserer nationalen Verwaltungsordnung.“[114] Dementsprechend kann man in einem Buch über den tatsächlichen Stellenwert des Rechts in den Theorien zum öffentlichen Handeln lesen, dass die Frage zwar nicht gänzlich unausgesprochen bleibt, aber dennoch „eine gewisse Vertraulichkeit (confidentialité)“ behält.[115] Zweifellos trifft dies nicht ganz zu, und sei es nur, weil der Conseil d’État weiterhin seinen Platz im Zentrum eines Netzwerks innehat, von wo aus er nicht nur den Rechtsschutz kontrolliert. Nichts entzieht sich seinem Zugriff: die Verwaltung, das Verwaltungsrecht, das Allgemeininteresse in allen Erscheinungsformen.
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Was Legendre erfasst hatte, entwickelte sich allerdings zu einem tatsächlichen Problem: das „Widerstandsmoment“. Ist das Verwaltungsrecht nicht ein Hindernis für die Modernisierung der Verwaltung, die zu einem vordringlichen politischen Ziel geworden ist? Anders formuliert, „kann [diese Modernisierung] an der Reflexion über das Verwaltungsrecht und über seine potenzielle Rolle als Bremse oder Motor des Wandels der Verwaltungspraxis spurlos vorübergehen?“[116] Natürlich war dies als rhetorische Frage gemeint: Das Verwaltungsrecht ist eine Bremse, umso mehr, als es „vom Recht in den Büchern zum Recht in der Praxis ein weiter Weg“ ist.[117] Sind die Juristen also nicht nur zu wenige, sondern auch noch unzureichend ausgebildet? Die Frage ist gleichzeitig ein Aufruf zur Erneuerung des Rechts, seiner Konzeption genauso wie seiner Lehre. Diejenigen Öffentlichrechtler, die den Verwaltungswissenschaften aufgeschlossen gegenüberstehen, sind denn auch die schärfsten Kritiker einer auf „technischen Positivismus“ reduzierten „juristischen Dogmatik“. Sie sind es, die sich besonders damit auseinandersetzen, wie die künftige „Verwaltungsrechtslehre“ aussehen soll.[118]
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Der Anspruch, eine „Verwaltungswissenschaft“ zu begründen, die ihren Forschungsgegenstand festlegt (das Objekt „Verwaltung“),[119] geht einher mit der Forderung, „eine wegen der Hypertrophie der Dogmatik zweitrangig gewordene Wissenschaft vom Verwaltungsrecht zu rehabilitieren“.[120] Diese Wissenschaft müsse einen rechtsexternen Standpunkt einnehmen. Sie sei nicht auf dem Feld der „Rechtsdogmatik“ angesiedelt, die Teil der Rechtsproduktion ist und sich in einem „technischen Positivismus“ erschöpft. Sie wird vielmehr als Arbeit über das Recht und nicht als Arbeit im Recht verstanden. Gewiss gibt es, zurückhaltend ausgedrückt, insofern noch Diskussionsbedarf.[121] Wie dem auch sei, eines steht fest: Was wir als „Verwaltungsrechtswissenschaft“ bezeichnet haben, stimmt mit dem überein, was in kritischer Absicht „Rechtsdogmatik“ oder „Rechtslehre“ genannt wird. Und die Bezeichnung „Verwaltungsrechtswissenschaft“ wird dann wiederum für etwas ganz anderes reserviert. Eisenmann kann als Beleg dafür herhalten, freilich mit der Ergänzung, dass, wo er eine juristische Theorie des Verwaltungsrechts ausarbeiten wollte, die Verwaltungswissenschaften in die verschiedensten Wissensgebiete ausgreifen.[122]
6. Die institutionelle Festigung der Verwaltungsrechtswissenschaft
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Duguit und Hauriou konnten ihre herausragende Rolle nur deshalb erlangen, weil das Leitbild des Zivilrechtlers an den juristischen Fakultäten an Strahlkraft eingebüßt hatte. Davon zeugt die Reform der