Ius Publicum Europaeum. Andrzej Wasilewski
Der Begriff der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (vgl. jetzt Art. 14 und 106 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) stieß auf Unverständnis, und man sah bedroht, was man in Frankreich als services publics bezeichnet. Es gab Debatten über die Zukunft des so genannten „service public à la française“. Lehrbücher zum Recht der services publics wurden veröffentlicht und entsprechende Vorlesungen eingeführt;[162] Kolloquien wurden ebenso organisiert wie politische Demonstrationen und Podiumsdiskussionen. Ein Kommissionsbericht unter Vorsitz des Vizepräsidenten des Conseil d’État zeigte auf, dass zwischen dem „juristischen Dogma des service public“ und den zwischen 1930 und 1940 entstandenen „konkreten Organisationsstrukturen“ der services publics zu unterscheiden sei. Letztere wurden sehr wohl in Frage gestellt, das Dogma an sich jedoch, und das war die Hauptsache, blieb ungeschoren.[163] Gab die folgende Entwicklung diesem Verständnis Recht? Das ist eine Frage, die weiterhin offen bleibt.
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Nachdem man sich einmal auf die „Europa-Kompatibilität“ des Verwaltungsrechts eingelassen hatte, gestaltete es sich „schwierig angesichts der komplexen Materie“,[164] die Dynamik der Europäisierung in ihrer Tragweite einzuschätzen. Zweifellos stellt sie eine traditionelle Definition des Verwaltungsrechts, die nicht quellenorientiert erfolgt,[165] nicht in Frage. Genauso wenig steht sie der Annahme von Sonderregimen im Allgemeininteresse entgegen. Zwar ist möglicherweise der Umfang jener Bereiche im Europarecht und im französischen Recht nicht deckungsgleich und in der Folge der europäische Verwaltungsbegriff ein anderer als der französische. Das wirkt sich jedoch nur insofern aus, als damit eine altbekannte Debatte neues Leben erhält, gab es doch in Frankreich selbst nie eine gesicherte Antwort auf diese Frage. Die mythenhafte Eigenständigkeit des Verwaltungsrechts, die in Wirklichkeit vor allem die Eigenständigkeit des Conseil d’État gegenüber der Cour de cassation betraf, hat heute sicherlich ihre Bedeutung verloren. Das spielt aber keine große Rolle, zumal der Conseil d’État sich selbst in einem System verortet, in dem er außer mit dem Conseil constitutionnel auch noch mit den europäischen Gerichten zu einer Koexistenz finden muss. Was das materielle Recht anbelangt, so bringen die europäischen Normen einige Umwälzungen mit sich, von denen gesagt wurde, die französische Lehre habe sie noch gar nicht registriert.[166]
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Unter diesen Umwälzungen, die zwar nicht ausschließlich auf die Europäisierung zurückzuführen, aber doch sicherlich durch sie beschleunigt worden sind, kann man hervorheben, was gerne als „Subjektivierung der juristischen Diskussion“ bezeichnet wird und gewissermaßen, freilich in anderem Zusammenhang (Rechtsstaats- und Demokratieprinzip), zu den Ursprüngen zurückzuführen scheint:[167] Der Verwaltungsrichter „hat nicht mehr nur die Gesetzeskonformität einer Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, er muss vielmehr über die Gesamtheit der Rechte befinden, die eine Privatperson gegenüber der Verwaltung in einem bestimmten Rechtsstreit geltend machen kann.“ Infolgedessen „wird sich in den kommenden fünfzehn oder zwanzig Jahren […] die Rolle der französischen Verwaltungsgerichte radikal ändern. Ihr Schwerpunkt wird sich von der Verteidigung der objektiven Legalität hin zum Schutz individueller Rechte derjenigen verschieben, die man noch vor kurzem ‚Verwaltungsunterworfene [administrés]‘ nannte und die es nun als Privatpersonen anzuerkennen gilt.“[168]
2. Die Auswirkungen auf Ausbildungsinhalte und -einrichtungen sowie wissenschaftliche Veröffentlichungen
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Zeitgleich mit der Zunahme der Verwaltungsrechtsvorlesungen (in denen dem Europarecht ein immer größerer Stellenwert zukommt) wurden an den juristischen Fakultäten neue Lehrveranstaltungen eingeführt, z.B. „Europäische Institutionen“ oder „Materielles Gemeinschaftsrecht“. Im Titel einiger Masterstudiengänge firmiert jetzt das „Europarecht“, meist im Zusammenhang mit „öffentlichem Recht“ oder „Völkerrecht“. Einige sind der „europäischen Rechtsvergleichung“ gewidmet, allerdings, Irrtümer oder aktuelle Entwicklungen vorbehalten, gibt es keinen zum „europäischen Verwaltungsrecht“.
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Die Zukunft scheint der Schaffung integrierter, von mehreren Universitäten getragener Studiengänge zu gehören. Als Beispiel sei hier der Master of European Governance and Administration (MEGA) der Universitäten Potsdam und Paris I in Zusammenarbeit mit verschiedenen Partnern genannt.[169] Auch wenn dieser Master als „Ausbildung zukünftiger Führungskräfte für den öffentlichen Dienst“ und nicht rechtswissenschaftlich angelegt ist, lohnt sich seine Erwähnung, weil er zwangsläufig auf die von der Verwaltungswissenschaft aufgeworfenen Fragen verweist.[170] Wie soll im Zeitalter der governance die Lehre eines europäischen Verwaltungsrechts aussehen? Mit dieser Frage sind, auf die eine oder andere Weise, die länderübergreifenden Forschergruppen konfrontiert, an denen auch die französischen Verwaltungsrechtler, Professoren und Praktiker teilnehmen.[171] Dem sei nur noch hinzugefügt, dass sich infolge dieser Sensibilisierung für das Thema die traditionelle verwaltungsrechtliche Literatur[172] für Publikationen zum „europäischen Verwaltungsrecht“ geöffnet hat.[173]
3. Das Zusammenspiel zwischen nationaler und europäischer Verwaltungsrechtswissenschaft
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Die Sonderausgabe der Zeitschrift AJDA[174] von 1996 erschien mit einem Untertitel, der übersetzt lautet: „Von wechselseitigen Einflüssen zur Perspektive eines europäischen Verwaltungsrechts: Stand der heutigen Diskussion“. Während Jürgen Schwarze nach den Konvergenzen und Divergenzen suchte, behandelte ein anderer deutscher Professor, Eberhard Schmidt-Aßmann, die „Wechselbeziehungen zwischen nationalen Rechtsordnungen und europäischem Verwaltungsrecht“. Er unterschied vier europäische Normkategorien (das Recht der Verwaltung auf Gemeinschaftsebene, gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für die nationale Verwaltung, Verwaltungsrecht sonstigen völkervertraglichen Ursprungs sowie das mitgliedstaatliche Verwaltungsrecht) und betonte die Vielfalt an Formen gegenseitiger Beeinflussung. Er beklagte den Mangel an Strukturierung und fuhr fort: „Wenn die Verwaltungsrechtswissenschaft eine Systematisierungsaufgabe hat, dann findet sie hier ihre Spielwiese!“ Jean-Claude Bonichot, Mitglied des Conseil d’État und universitärer Lehrbeauftragter, kam zu einer ähnlichen Schlussfolgerung: „Die Herausforderung der Juristen von morgen besteht in der Vielfalt der Rechtssysteme mit ihrer jeweils eigenen Logik und Organstruktur.“ Wenn die Aufgabe also identifiziert und Gegenstand von Publikationen ist,[175] so muss gleichwohl bezweifelt werden, dass man sie im Jahre 2010 auch schon gemeistert hat!
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Innerhalb des Ganzen war die Gemeinschaftsverwaltung für sich schon eine Herausforderung, die sicher ihrerseits in Frankreich nicht immer auf Gegenliebe stieß und einige Enttäuschung verursachte. In der Tat nennt diese Verwaltung,[176] gelinde gesagt, einige Funktionsweisen ihr Eigen, deren Logik ähnlich irritierend erscheinen mochte, wie die eines Stammes mit fremdartigen Gebräuchen. Dies trieb auch den Conseil d’État noch in seinem Jahresbericht 2007 um.[177]
4. Die Entwicklung der Rechtsvergleichung und die Frage einer Reform des Verwaltungsrechts
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Die Geschichte zeichnet das Bild einer Verwaltungsrechtswissenschaft, die ohne die Auseinandersetzung mit anderen Rechtstraditionen, insbesondere der englischen und der deutschen, nicht zu dem geworden wäre, was sie im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war. Heute ist die Perspektive diejenige eines europäischen Verwaltungsrechts, bislang noch im Wesentlichen verstanden als „Erkundung dessen, was man als Verwaltungsrechtsgemeinschaft bezeichnen kann, in der sich die europäischen Staaten um einige grundsätzliche Richtungsentscheidungen scharen“. Dies geschieht durch „Beschreibung der Analogien, Unterschiede und wechselseitigen Beeinflussungen der verschiedenen Rechtsordnungen“,[178] entweder aus einer allgemeinen Perspektive, um zum Verständnis der jeweiligen rechtlichen