Ius Publicum Europaeum. Andrzej Wasilewski
hinaus verfügt der Conseil d’État über weitere Publikationsorgane für seine Rechtsprechung: neben dem seit 1821 erscheinenden Recueil Lebon[144] insbesondere die seit 1947 von der Documentation française veröffentlichte Zeitschrift Études et documents. Letztere bietet heute den Rahmen für den öffentlichen Jahresbericht des Conseil, der sich in zwei Teile gliedert: Der erste zieht eine Bilanz der Rechtsprechungs- und Verwaltungstätigkeiten. Der zweite ist allgemeinen Überlegungen zu einem spezifischen Thema gewidmet (z.B. „Rechtssicherheit und Komplexität des Rechts“, 2006; „Die französische Verwaltung und die Europäische Union: Einflüsse? Strategien?“, 2007; „Der Vertrag als Handlungs- und Rechtssetzungsinstrument der Verwaltung“, 2008). Es werden noch zahlreiche weitere Berichte des Conseil d’État im erwähnten Verlag veröffentlicht, der eine dem Premierminister nachgeordnete, staatliche Stelle ist und im öffentlichen Interesse Dokumentations- und Informationsaufgaben wahrnimmt, wie die Direction des Journaux Officiels.[145]
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Darüber hinaus mangelt es nicht an verwaltungsrechtlichen Fachzeitschriften, in denen sich Praktiker wie Akademiker ausgiebig zu Wort melden.[146] Gleiches gilt für die großen juristischen Fachverlage, wie Dalloz, Librairie Générale de Droit et de Jurisprudence (LGDJ), Presses Universitaires de France (PUF), Montchrestien und LexisNexis Litec. Dazu kommen noch die kleineren, spezialisierteren Verlage. So gibt es beispielsweise eine Vielzahl spezialisierter Praktikerzeitschriften und Fachbuchreihen zur Regional- und Lokalverwaltung, die häufig von akademischer Seite etwas verkannt, der entsprechenden Beamtenschaft aber durchaus geläufig sind.
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 59 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Frankreich › III. Die universitäre Ausbildung im Verwaltungsrecht heute
1. Welchen Stellenwert hat sie? Welche Lehrveranstaltungen und welche Prüfungen gibt es?
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Die heutige verwaltungsrechtliche Ausbildung muss im Kontext des Systems Licence-Master-Doctorat (LMD) gesehen werden, das in Frankreich Anfang des 21. Jahrhunderts eingeführt wurde. Während der Licence gibt es in der Regel eine erste Einführung im zweiten Studienjahr durch eine zweisemestrige Vorlesung im Verwaltungsrecht (z.B. mit zweimal 36 Vorlesungsstunden), die von etwa gleich dimensionierten Fallbesprechungen (travaux dirigés) begleitet wird.[147] Jedes Semester wird mit einer Klausur (meist dreistündig) abgeschlossen; in den travaux dirigés gilt es, fortlaufend Leistungsnachweise zu erbringen. Dem geht im ersten Studienjahr eine Vorlesung im Verfassungsrecht voraus.[148] Als Grundlagenfach wird das Verwaltungsrecht an praktisch allen juristischen Fakultäten gelehrt, gleichberechtigt mit dem Zivilrecht. Aufgrund von Zeitknappheit scheint jedoch der Bereich der Verwaltungsressourcen (personeller und sachlicher Natur) oft ausgespart zu werden. Letzteres ist dafür im dritten Studienjahr oder während des Master Gegenstand einsemestriger Lehrveranstaltungen (gefolgt von einem schriftlichen oder mündlichen Leistungsnachweis). Ansonsten bleibt nur, an die bereits erwähnte Explosion der Fachgebiete zu erinnern.[149] Ein jedes kann potenzieller Gegenstand einer einsemestrigen Lehrveranstaltung oder Schwerpunktbereich eines Master 2 (M2) sein.[150] Was Letzteren anbelangt, so ist zwischen M2 professionnel, der direkt in einen Beruf mündet oder auf spezifische Auswahlverfahren (concours) vorbereitet, und M2 recherche zu unterscheiden, dem üblichen Weg zu einer Promotion oder universitären Laufbahn. Während Ersterer sich mehr oder weniger gleichbleibender Teilnehmerzahlen erfreut, kämpfen die M2 recherche um ihr Überleben und damit um die Zukunft der Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern.[151] Letztlich ist aber in allen Studiengängen eine mehr oder weniger zunehmende Praxisorientierung zu verzeichnen.
2. Konkreter Fall oder abstrakte Theorie? Wie Verwaltungsrecht gelehrt wird
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Die Ausbildung im zweiten Studienjahr entspricht sicherlich überwiegend dem, was von einem bestimmten verwaltungswissenschaftlichen Standpunkt aus so heftig kritisiert wird. Sie vermittelt den Gebrauch einer „juristischen Dogmatik“ „unter praxisorientierten Vorzeichen und propagiert eine Art juristisches Ingenieurswesen“.[152] Die Jahrbücher, in denen Klausurthemen veröffentlicht werden, bestätigen diese These:[153] Die dissertation générale (allgemeiner Aufsatz) nimmt einen gewissen Raum ein, häufiger ist jedoch die étude de cas (Fallbearbeitung), und die Königsdisziplin bleibt der commentaire de texte (Besprechung eines Textes, im Allgemeinen eines Urteils des Conseil d’État). Werden „die neuen Ufer des Verwaltungsrechts“ also insoweit ignoriert? Der von Jacques Caillosse so genannte „Wandel der Formen von Rechtsproduktion“ und die „fortschreitende Hybridisierung“ der Verwaltungsorganisation?[154] All das, was die Realität zunehmend komplexer macht und die Bedeutung des Verwaltungsrechts zu verändern scheint? Sicher nicht. Lehrkräfte und Studenten können die zahlreichen Publikationen nicht ignorieren, die den Wandel und die Schwächung der hergebrachten Verwaltungsrechtsstrukturen beschreiben und sich mit der Frage nach Erneuerungsmöglichkeiten beschäftigen.[155] Da mehr in Bewegung denn je, ist das Fach schwierig zu erfassen. Man wird aber nicht wirklich von einer Krise sprechen können. Es handelt sich wohl eher um ein vorübergehendes Unwohlsein.
3. Die „Erzählung der Verwaltung über sich selbst“
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Schon aufgrund ihrer Herkunft oszillieren verwaltungsrechtswissenschaftliche Forschung und universitäre Lehre zwischen zwei Polen: Dem von ihnen konzipierten Verwaltungsrecht (das aus einzelnen Regeln besteht) und der Verwaltung. Je nach Standpunkt ist die Perspektive eine andere. Deshalb muss man feststellen, dass in einer auf das Recht zentrierten Ausbildung die Verwaltung „nur indirekt vorkommt“.[156] Sie ist zwar allgegenwärtig, aber nur als Zerrbild, gespiegelt in einem Recht voller Eigensinn, nicht in ihrer empirischen Realität.[157] Wenn man also ein gewisses Unwohlsein konstatieren kann, dann wohl wegen des diffusen Gefühls, dass noch eine andere Imagination am Werk ist, geprägt insbesondere durch die anglo-amerikanischen Management-Konzepte, Quellen neuer Mythen. Zunehmend im positiven Recht gegenwärtig und auch vielbeschrieben[158] sei hier die „Regulierung“ als Beispiel genannt, ein Konstrukt unserer Vorstellungskraft und vielleicht auch eine Glaubenssache. Werden wir also Zeugen einer veritablen „Umwälzung juristischen Denkens“?[159] Kann man noch von „Verwaltungsrecht“ sprechen? „ [Es] stellt sich nunmehr die Frage nach einer Bezeichnung für dieses namenlose rechtliche Phänomen: Nach und nach löst das ‚Recht des öffentlichen Handelns‘ das alte ‚Verwaltungsrecht‘ ab.“[160] Sicherlich tut sich an dieser Stelle ein Forschungsfeld auf, nicht nur in Frankreich.[161]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 59 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Frankreich › IV. Die Europäisierung der Verwaltungsrechtswissenschaft
1. Wie kam es zur Europäisierung der Verwaltungsrechtswissenschaft und von welchen Konflikten wurde sie begleitet?
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Da die Verwaltungsrechtswissenschaft weiterhin größtenteils das Werk des Conseil d’État ist, ging ihre Europäisierung teilweise mit dem Wandel seiner Rechtsprechung und daher mit der Europäisierung des Verwaltungsrechts selbst einher. An dieser Stelle sind die Wissenschaft und ihr Gegenstand wieder einmal kaum voneinander zu trennen. Verallgemeinernd gesagt scheint sich die Mehrzahl der Verwaltungsrechtler in den Dienst der Europäisierung gestellt zu haben, die zunächst als Anpassung des französischen Verwaltungsrechts an das Europarecht begriffen wurde. Damit sei aber nicht gesagt, dass dies