BGB-Erbrecht. Lutz Michalski
Wenn zunächst A als Alleinerbe eingesetzt wurde und in einem späteren Testament B zu 2/3 als Erbe eingesetzt wurde, so liegt hinsichtlich des verbleibenden 1/3 an sich kein Widerspruch vor, sodass A Erbe zu 1/3 wird. Allerdings kann sich ggf. im Wege der Auslegung ergeben, dass A gerade nicht mehr Erbe werden, sondern im Übrigen die gesetzliche Erbfolge gelten sollte. Vor der Überprüfung, ob ein Widerspruch zu einer früheren Verfügung besteht, ist das spätere Testament daher nach den allgemeinen Regeln auszulegen (→ Rn. 323 ff.).
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Wenn das spätere Testament gem. §§ 2254-2256 widerrufen wird, etabliert § 2258 Abs. 2 die widerlegbare Auslegungsvermutung[16], dass das frühere Testament im Zweifel wirksam sein soll, wie wenn es nicht aufgehoben worden wäre. Wird das spätere Testament hingegen nicht widerrufen, sondern aus anderen Gründen gegenstandslos (z.B. wegen des Vorversterbens des Bedachten), so bleibt das frühere Testament gem. § 2258 Abs. 1 aufgehoben und damit unwirksam.[17]
3. Widerruf durch Vernichtung oder Veränderungen der Testamentsurkunde, § 2255
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Gem. § 2255 S. 1 kann ein Testament durch Vernichtung oder Veränderungen an der Testamentsurkunde widerrufen werden. Um den Erblasser vor unüberlegten und übereilten Widerrufen abzuhalten[18] und Rechtssicherheit zu gewährleisten[19], ist allerdings erforderlich, dass der Erblasser die Testamentsurkunde vernichtet oder an ihr Veränderungen vornimmt, durch die der Wille, eine schriftliche Willenserklärung aufzuheben, ausgedrückt zu werden pflegt (Widerrufshandlung, → Rn. 195 ff.) und dass der Erblasser dabei in Aufhebungsabsicht handelt (→ Rn. 200). Der Widerruf gem. § 2255 S. 1 ist somit dogmatisch ein Widerruf durch konkludentes Handeln[20], sodass Testierfähigkeit erforderlich ist[21]. Obgleich auch § 2255 für alle Testamentsformen gilt, wird ein Widerruf durch Vernichtung oder Veränderung der Testamentsurkunde typischerweise nur bei eigenhändigen Testamenten relevant, da sich öffentliche Testamente in amtlicher Verwahrung befinden sollten und die Rücknahme aus derselben regelmäßig schon zum Widerruf gem. § 2256 (→ Rn. 202 f.) führt.[22]
a) Widerrufshandlung
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Vernichtung bedeutet die vollständige körperliche Zerstörung der Testamentsurkunde, z.B. durch Verbrennen oder Zerreißen[23] (als ausreichend angesehen wurden dabei auch tiefe, von zwei Seiten erfolgte Einrisse der Testamentsurkunde[24]). Die bloße Vernichtung einer Kopie oder Abschrift genügt nicht.[25]
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Mit Veränderung ist eine körperliche Veränderung der Testamentsurkunde gemeint, ohne dass diese dabei völlig zerstört wird.[26] Beispiele sind Durchstreichen[27], Ausradieren, Schwärzungen oder Ausschneidungen[28] von Textteilen oder das Zerknittern zu einem Knäuel[29].[30]
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Umstritten ist die Wirksamkeit von Ungültigkeitsvermerken (z.B. „ungültig“, „annulliert“). Einer Ansicht nach stellen sie nur dann einen wirksamen Widerruf dar, wenn die Form des § 2254 eingehalten wird; dies wird damit begründet, dass es sich nicht um eine Widerrufshandlung, sondern eine Widerrufserklärung handele.[31] Die ganz h.M. sieht derartige Vermerke indes zu Recht auch ohne Unterschrift des Erblassers als wirksam an.[32] Denn § 2255 verlangt gerade nicht die Einhaltung der Testamentsform; entscheidend ist nach dem Wortlaut vielmehr eine Handlung, durch die der Aufhebungswille „ausgedrückt zu werden pflegt“ und genau dies ist bei derartigen Ungültigkeitsvermerken der Fall.
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Ähnliches gilt für den gleichfalls umstrittenen Fall, dass der Erblasser die unversehrte Testamentsurkunde in den Papierkorb wirft. Große Teile der Literatur wollen dies nicht ausreichen lassen, weil der Erblasser die Testamentsurkunde jederzeit unbeschädigt wieder aus dem Papierkorb entnehmen könne und es somit an einer Veränderung fehle.[33] Andere bejahen eine wirksame Widerrufshandlung jedenfalls dann, wenn sich in dem Abfallbehälter Stoffe oder Flüssigkeiten befinden, die eine Veränderung der Testamentsurkunde herbeiführen.[34] Nach allgemeiner Lebenserfahrung bezweckt das Wegwerfen in den Papierkorb indes gerade die Vernichtung des Schriftstücks; es handelt sich somit zutr. Ansicht nach ebenfalls um eine Handlung, durch die der Aufhebungswille „ausgedrückt zu werden pflegt“ i.S.d. § 2255 S. 1.[35]
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Die Vernichtung bzw. Veränderung muss durch den Erblasser höchstpersönlich erfolgt sein. Eine zufällige Vernichtung bzw. Veränderung (z.B. Krieg, Brand, Hochwasser) erfüllt den Tatbestand des § 2255 S. 1 nicht.[36] Ebenso wenig genügt eine Vernichtung oder Veränderung durch einen Dritten (vgl. §§ 2064 f.).[37] Der Erblasser kann sich jedoch einer anderen Person bedienen, die als unselbstständiges, nicht mit eigenem Entscheidungsspielraum ausgestattetes „Werkzeug“ in seinem Auftrag und mit seinem Willen die Handlungen vornimmt.[38] Sofern eine solche „Willensbeherrschung“ vorliegt, ist es irrelevant, ob der Erblasser bei der tatsächlichen Vernichtung/Veränderung der Testamentsurkunde durch den Dritten persönlich anwesend ist.[39] Wie jeder Widerruf muss die Ausführungshandlung aber jedenfalls noch zu Lebzeiten des Erblassers erfolgen.[40] Nicht möglich ist auch eine nachträgliche Genehmigung einer durch einen Dritten autonom vorgenommenen Vernichtung/Veränderung; denn § 185 ist auf tatsächliche Handlungen nicht anwendbar.[41]
b) Aufhebungsabsicht
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Der Erblasser muss in Aufhebungsabsicht gehandelt haben. Wenn feststeht, dass der Erblasser die Testamentsurkunde verändert oder vernichtet hat, so wird die Aufhebungsabsicht vom Gesetz allerdings widerleglich (§ 292 ZPO)[42] vermutet (§ 2255 S. 2). Die Vermutung des Aufhebungswillens kann z.B. als widerlegt angesehen werden, wenn der Erblasser in einem Testament Verfügungen durchgestrichen hat und feststeht, dass die Streichungen lediglich der Vorbereitung eines neuen Testaments dienten, in dem inhaltlich gleiche Verfügungen wieder getroffen werden sollten.[43] Gleiches gilt, wenn feststeht, dass der Erblasser das Testament nur versehentlich vernichtet hat (z.B. weil ihm nicht klar war, dass es sich bei dem Dokument um ein Testament handelte[44] oder weil es zwischen einen Stapel anderer Dokumente geraten war[45]).
c) Beweislast
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Wenn das Testament unauffindbar ist oder zerstört bzw. mit Veränderungen aufgefunden wird, so spricht keine Vermutung dafür, dass dies durch den Erblasser erfolgte.[46] Im Prozess verteilt sich daher die Beweislast nach der allgemeinen Regel, dass derjenige, der aus einem Umstand Rechte herleitet, diese auch beweisen muss. Inhalt und Formgültigkeit des Testaments muss somit der testamentarische Erbe beweisen.[47] Den Widerruf hingegen muss derjenige beweisen, der sich auf die Unwirksamkeit des Testaments beruft.[48]
4. Rücknahme des Testaments aus der amtlichen Verwahrung, § 2256
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Die Rücknahme eines öffentlichen Testaments aus der amtlichen Verwahrung gilt gem. § 2256 Abs. 1 S. 1 als Widerruf. Diese Widerrufsfiktion