Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
die Ratifizierung des Vertrages von Maastricht erforderlichen Verfassungsänderung wurde Art. 88–1 in die Verfassung eingefügt, der besagt: „Die Republik wirkt in den Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union mit, die aus Staaten bestehen, die sich freiwillig vertraglich dazu entschlossen haben, einige ihrer Kompetenzen gemeinsam auszuüben“. Diese Bestimmung weist dem Gemeinschaftsrecht einen besonderen Platz zu, da sie dieses nicht mehr (nur) den verschiedenen Verfassungsnormen zum Völkerrecht zuordnet. Art. 88–1 CF erkennt vielmehr an, dass der Aufbau Europas Wege geht, die nicht immer mit denen anderer internationaler Organisationen zu vergleichen sind. Gleichzeitig gibt er der Rechtsprechung zur Unterscheidung des Rechtsstatus „gewöhnlicher“ Verträge von denen des Unionsrechts ein neues Mittel an die Hand. Der Conseil constitutionnel ist dabei, diesen Weg zu gehen.[13]
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Der Wortlaut von Art. 88–1 CF wurde anlässlich der Verfassungsänderung von 2004 zur Ratifizierung des Europäischen Verfassungsvertrages (VVE) modifiziert. Das Verfassungsgesetz vom 1. März 2005 berücksichtigte mit zwei unterschiedlichen Fassungen beide denkbaren Ausgänge des Referendums über den VVE. Bis zu einer Ratifizierung des VVE erhielt Art. 88–1 CF einen zusätzlichen Absatz, der die Mitarbeit in der EU zu den im VVE festgelegten Bedingungen ermöglicht. Wäre er ratifiziert worden, hätte ein gänzlich neuer Art. 88–1 CF verfügt: „Die Republik wirkt unter den Bedingungen, wie sie im am 29. Oktober 2004 unterzeichneten Vertrag zur Einführung einer Europäischen Verfassung festgelegt wurden, in der Europäischen Union mit, die aus Staaten besteht, die sich freiwillig für eine gemeinsame Ausübung ihrer Kompetenzen entschieden haben“. Die aktuelle Fassung jedenfalls bewahrt die verfassungsrechtliche Basis der Mitwirkung Frankreichs in einer EU ohne VVE.
Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 15 Offene Staatlichkeit: Frankreich › II. Vom europäischen Gemeinschaftsrecht aufgeworfene Probleme
II. Vom europäischen Gemeinschaftsrecht aufgeworfene Probleme
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Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in französisches Recht wirkt sich zunächst auf die Organisation der Staatsorgane aus. Obwohl das Gemeinschaftsrecht die institutionelle Autonomie der Mitgliedstaaten im Prinzip bewahrt und daher keine Vorgaben darüber enthält, wie die innerstaatliche Machtverteilung auszusehen hat, wirkt es sich doch indirekt auf das interne Funktionengefüge aus. Der Bedeutungsverlust des Parlaments (1) ist das sichtbarste Zeichen der Europäisierung des Institutionengefüges. Zudem haben die zur Ratifizierung der Verträge durchgeführten Referenden Meinungsverschiedenheiten im Volk deutlich gemacht (2). Die eminente Funktion der Richter und die schrittweise Anerkennung der rechtlichen Konsequenzen der europäischen Integration in der Rechtsprechung (3) sind schließlich diskrete, aber wesentliche Auswirkungen dieser Integration.
a) Vorrangstellung der Regierung bei Anwendung des Gemeinschaftsrechts
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Das Parlament war – sieht man einmal von der erforderlichen Genehmigung einer Vertragsratifizierung ab – lange Zeit nicht an den französischen Entscheidungen zur Europapolitik beteiligt. Das hatte mehrere Ursachen. An erster Stelle ist hier zu nennen, dass die Außenpolitik als Privileg der Exekutive betrachtet wird. In Sachen Außenpolitik verleiht die Verfassung dem Staatspräsidenten oder der Regierung keine besondere Zuständigkeit. Sie ist neben anderen Materien vielmehr ein Bestandteil der von ihnen geführten Politik des Landes. Insoweit gehört es zur Tradition, dass die Exekutive in Sachen Außenpolitik große Handlungsfreiheit genießt. Man hat sogar – fälschlicherweise – von einer domaine réservé (Prärogative) des Staatspräsidenten gesprochen.[14] Da die Europapolitik immer Teil der Außenpolitik war, konnte es nicht überraschen, dass das Parlament kaum in sie einbezogen wurde. Daneben diente die Errichtung der V. Republik auch dazu, den tatsächlichen oder mutmaßlichen Machtmissbrauch durch das Parlament in den vorangegangenen Verfassungsordnungen zu verhindern.[15] Die Autoren der Verfassung von 1958 wollten die parlamentarischen Vorrechte einschränken und haben daher auch nicht versucht, die europaverfassungsrechtlichen Befugnisse der Abgeordneten zu erweitern. Schließlich war auch das Verfahren zur Gründung der Gemeinschaften und der Europäischen Union nicht geeignet, die Funktion des Parlaments zu stärken. Die Verträge, wie auch alle anderen wichtigen Entscheidungen, wurden lange Zeit allein von den Regierungen vorbereitet. Zudem verlor das französische Parlament – wie alle anderen europäischen Parlamente – durch die Kompetenzübertragung an die Gemeinschaften einen Teil seiner gesetzgebenden Gewalt.[16]
b) Konsultation des Parlaments zu Vertragsentwürfen der Gemeinschaft
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In Frankreich gab es lange Zeit kein besonderes Interesse daran, das (nationale) Parlament in die Europapolitik einzubeziehen. Erst 1992 erhielt es ein Recht auf Einsichtnahme in die wichtigsten Gemeinschaftsentscheidungen. Aus Anlass der Verfassungsänderung zur Ratifizierung des Vertrages von Maastricht wurde Art. 88–4 in die Verfassung aufgenommen. Die Regierung präsentierte ihn als Kompensation für den durch die erneute Übertragung von Kompetenzen an die Gemeinschaften entstandenen Verlust gesetzgebender Gewalt. Die Vorschrift stellt sicher, dass die Regierung beiden Kammern Entwürfe zu Gemeinschaftsverträgen mit Gesetzescharakter vorlegt. Die Kammern äußern sich zu einer in Rede stehenden Übertragung von Kompetenzen auf die Europäische Union, wobei ihre Auffassung durch Annahme einer Resolution formalisiert werden kann. Diese Resolutionen sind für die Regierung bei ihren Brüsseler Verhandlungen nicht bindend. Dieses Verfahren ist 1992 geschaffen worden, um das Parlament zu stärken. Damit sollte die Übertragung von Gesetzgebungszuständigkeiten an die EG ausgeglichen werden.[17] Es wird aber diskutiert, ob das Verfahren dem Parlament tatsächlich ermöglicht, einen gewissen Einfluss auszuüben.[18] Auf jeden Fall stärkt die Einbindung des Parlaments die französische Regierung gegenüber ihren Partnern. Daraus leiten manche Kommentatoren ab, dass Art. 88–4 CF, anstatt das Parlament mit neuen Handlungsvollmachten auszustatten, eher die Exekutive stärkt.[19]
2. Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bevölkerung
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In der Absicht, die Macht des Parlaments einzuschränken und die Exekutive zu stärken, räumt die französische Verfassung dem Staatsoberhaupt die Möglichkeit ein, jederzeit das Volk anzurufen und gesetz- (Art. 11) oder verfassunggebende (Art. 89) Referenden anzusetzen. Die Durchführung eines Referendums ist dabei immer fakultativ. Im Gegensatz zu General de Gaulle, der auf die Durchführung von Referenden geradezu versessen war, haben seine Nachfolger wesentlich weniger auf dieses Instrument zurückgegriffen. Von den fünf Referenden seit dem Rücktritt de Gaulles hatten drei einen Bezug zum Aufbau Europas.
a) Ambivalenz des Rückgriffs auf den Volksentscheid
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Die Ergebnisse der Referenden zum Beitritt Englands (1972), zur Ratifizierung des Vertrags von Maastricht (1992) und zur Ratifizierung des VVE (2005) zeigen die ganze Ambivalenz eines Rückgriffs auf Volksentscheide. Denn keiner dieser Volksentscheide war angesichts der unvermeidlichen Konfusion mit anderen Zielen in seiner politischen Botschaft eindeutig. Obwohl Referenden eigentlich dazu bestimmt sind, den Bürgern eine direkte Mitwirkung an politischen Entscheidungen zu ermöglichen, sind sie für die, die sie ansetzen – in Frankreich ausschließlich der Staatspräsident – immer auch ein Mittel, sich des Rückhalts in der Bevölkerung zu vergewissern oder die parlamentarische Opposition auszuschalten. Diese Ambivalenz wird in europäischen Fragen besonders deutlich, weil diese nicht beständig in die politische Diskussion einfließen oder sonst im Mittelpunkt des politischen Interesses stehen. Die Bürger werden somit aufgefordert, sich zu einer Frage zu äußern, die ihnen häufig fremd oder gleichgültig ist, und für die Politiker ist die Versuchung groß, in die Diskussion über Europa innenpolitische Aspekte