Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
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I. Verfassungsrechtliche Grundlagen für die Umsetzung europäischen Rechts
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Bis 1992 gab es keine spezielle verfassungsrechtliche Grundlage, die eine Umsetzung europäischen Gemeinschaftsrechts in das französische Recht ermöglichte. Europäisches Recht wurde als Bestandteil des Völkerrechts betrachtet (1). Eine Wende sowohl für den Aufbau Europas selbst als auch in Bezug auf die Einschätzung des Gemeinschaftsrechts in Frankreich brachte erst die Errichtung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht. Aus ihm resultierte die verfassungsrechtliche Anerkennung des besonderen Charakters des Gemeinschaftsrechts (2).
1. Banalisierung des europäischen Rechts als Bestandteil des Völkerrechts
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Die die V. Republik konstituierende französische Verfassung von 1958 unterschied ursprünglich nicht nach der Quelle der in das französische Recht umzusetzenden Regeln. Der Verfassungstext differenzierte nicht zwischen Gemeinschaftsrecht und allgemeinem Völkerrecht (a). Bezeichnenderweise fand die europäische Frage im Verlauf von etwa 30 Jahren Verfassungsdebatte praktisch keine Erwähnung (b).
a) Wortlaut der Verfassung von 1958
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Vier Artikel der Verfassung von 1958 regeln das Verhältnis von nationalem Recht zu internationalen Verträgen. Sie beziehen sich auch auf die im Kontext der europäischen Integration geschlossenen Verträge. Absatz 15 der Präambel der französischen Verfassung von 1946 – ein integraler Bestandteil der Verfassung von 1958 – gestattet beim Abschluss von Verträgen „zur Organisation und Verteidigung des Friedens erforderliche Souveränitätsbeschränkungen“. Die Beteiligung Frankreichs an den Europäischen Gemeinschaften gründet auf dieser Festlegung. Art. 53 CF sieht vor, dass die Ratifizierung der wichtigsten Verträge durch ein Gesetz (Parlament oder Volksentscheid) genehmigt werden muss. Art. 54 CF ermöglicht dem Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) die Kontrolle internationaler Verpflichtungen vor ihrer Ratifizierung. Bei Verfassungswidrigkeit ist die Ratifizierung nur nach einer Verfassungsänderung möglich, was beim Vertrag von Maastricht erstmals der Fall war[8]. Art. 55 CF schließlich erkennt ordnungsgemäß ratifizierten oder genehmigten Verträgen unter dem Vorbehalt der Reziprozität „höhere Autorität als den Gesetzen“ zu und legt damit den Rang der Verträge in der Normenhierarchie fest. Der Vorbehalt der Reziprozität findet aufgrund der Besonderheit der durch sie begründeten Verpflichtungen allerdings weder auf Menschenrechtsabkommen noch auf das Gemeinschaftsrecht sowie bestimmte andere Verträge Anwendung.[9] Art. 55 CF ermöglicht französischen Richtern jedoch die Lösung von Konflikten zwischen nationalem und internationalem Recht zu Gunsten des letzteren.
b) Ausbleibende Verfassungsdebatte in den Jahren 1950 bis 1980
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Der Kontrast zwischen der herausragenden Bedeutung französischer Politiker in entscheidenden Augenblicken der Einigung Europas einerseits und die fehlende Debatte über die Auswirkungen der Ratifizierung der Verträge auf das französische Rechtssystem andererseits sticht ins Auge.
aa) Herausragende Bedeutung französischer Persönlichkeiten beim Aufbau Europas
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Die Bedeutung von Jean Monnet oder Robert Schuman für den Aufbau Europas in den ersten Jahren der Europäischen Gemeinschaften bedarf keiner besonderen Darlegung. Ihre persönlichen Erfahrungen während der Weltkriege, ihre Überzeugung von der Notwendigkeit, Deutsche und Franzosen miteinander zu versöhnen, ihr Pragmatismus und ihr politisches Gespür haben nachhaltig zur Errichtung der ersten Gemeinschaften beigetragen. Dass ihnen die politischen Rahmenbedingungen und eine massive Unterstützung seitens der Politik erheblich geholfen haben, kommt hinzu. Gaullisten und Kommunisten waren die einzigen, die die europäischen Integrationsentwürfe ablehnten.[10] 30 Jahre später hat Staatspräsident François Mitterrand mit dem Vertrag von Maastricht eine Vertiefung der Integration vorangetrieben, wobei ihm seine freundschaftliche Beziehung zu Bundeskanzler Helmut Kohl und die Verbindung zum Präsidenten der EU-Kommission Jacques Delors überaus hilfreich waren.[11]
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Andere Persönlichkeiten Frankreichs haben beim Aufbau Europas eine eher ambivalente Rolle gespielt. Die Ablehnung des Vertragsentwurfs der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) durch die Nationalversammlung 1954 lässt sich überwiegend noch mit der zeitlichen Nähe zum Krieg erklären und mit den Schwierigkeiten, eine Armee mit Beteiligung Deutschlands zu akzeptieren. Freilich konnte das passive Verhalten des Regierungschefs Pierre Mendès-France das integrationskritische Lager nur ermuntern. Mit seiner Weigerung, in dieser Sache klar Stellung zu Gunsten des Vertrages zu beziehen, überließ er seinen Gegnern das Feld. Im Gegensatz dazu nahm General de Gaulle immer eine entschlossen-kritische Haltung zu Europa ein. Weil er im Vereinigten Königreich das „Trojanische Pferd“ der Vereinigten Staaten in Europa sah, sprach er sich 1963 und 1967 auch gegen dessen Beitritt aus. Integrationspolitisch vertrat er eine strenge Konzeption der nationalen Souveränität. Wie die von seinem Außenminister Christian Fouchet Anfang der 1960er Jahre vorgelegten Pläne belegen, war er Verfechter einer politischen Kooperation der europäischen Staaten und lehnte eine immer weitergehende Integration ab. Dies wurde anlässlich der Krise der so genannten Politik des leeren Stuhls 1965–1966 besonders deutlich, als er seine Regierungsmitglieder zwang, nicht an den Treffen des Ministerrats in Brüssel teilzunehmen, um so gegen den Plan, die EWG mit Eigenmitteln auszustatten, zu protestieren. Unabhängig von ihren Vorstellungen über Europa haben freilich alle führenden französischen Politiker die Errichtung Europas immer als politisches Hauptthema betrachtet und sie in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt.
bb) Fehlende juristische Debatte über die Folgen einer Ratifizierung der Verträge
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Gleichwohl wurde die europäische Integration bis 1992 nicht von einer juristischen Debatte begleitet. Der verfassungsrechtliche Rahmen, in den sich das Völkerrecht seit 1958 einordnet, entsprach weitgehend der französischen Verfassung von 1946. Die relevanten Bestimmungen, die in der Präambel dieser Verfassung zu finden waren, wurden in die Verfassung von 1958 integriert: So gibt Art. 55 CF im Wesentlichen in klarerer Form den Wortlaut von Art. 26 der Verfassung von 1946 wieder. Eine Neuerung stellt allerdings Art. 54 CF dar, der die Kontrolle der Verträge durch den Conseil constitutionnel eingeführt hat. In der IV. Republik, die die Institution eines Conseil constitutionnel nicht kannte, wäre dies undenkbar gewesen, spielte doch die Entwicklung des Völkerrechts, genauer gesagt der europäischen Integration, für die Verfassunggeber keine Rolle. Seit der IV. Republik hat sich die französische Rechtsordnung internationalen Normen geöffnet. Dies war so selbstverständlich, dass dieser Grundsatz in den Verfassungsberatungen nicht einmal erwähnt wurde. Lediglich die Abfassung von Art. 55 CF über den Vorrang völkerrechtlicher Verträge vor den Gesetzen erregte einige Aufmerksamkeit, wobei allerdings allein der schließlich aufgenommene Vorbehalt der Reziprozität Gegenstand lebhafter und häufig obskurer Diskussionen zwischen den Spezialisten der verschiedenen, an der Ausarbeitung der Verfassung mitwirkenden Instanzen war.[12] Der Verfassunggeber hatte in dieser politisch unruhigen Periode andere Gründe zur Besorgnis: Im Vorjahr waren die Römischen Verträge ohne jeden Zwischenfall ratifiziert worden, und die von der IV. Republik übernommenen Grundsätze sollten eine Fortsetzung der französischen Außenpolitik ohne lange Debatten ermöglichen. Erst die Vertiefung der europäischen Integration förderte schließlich die Entstehung einer verfassungsrechtlichen Debatte über Europa.
2. Anerkennung des besonderen Charakters des europäischen Gemeinschaftsrechts