Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
Zunächst trat ein neuer Gegensatz zwischen „constitutionnalistes“ und „communautaristes“ auf. Angesteckt vielleicht vom sich als „Motor der Integration“ verstehenden und unitarisch ausgerichteten EuGH haben einige „communautaristes“ die Formulierung „Verfassungsurkunde“ wörtlich genommen und sich bemüht, die Gleichwertigkeit der Verträge mit einer Verfassung nachzuweisen. Genannt seien hier insbesondere J. Boulouis, J.-P. Jacqué oder D. Simon.[99] Bei einigen „constitutionnalistes“ – am überzeugendsten nach wie vor L. Favoreu – sind sie freilich auf harten Widerstand gestoßen.[100] L. Favoreu lehnte eine Gleichsetzung der Verträge mit einer Verfassung angesichts des Fehlens einer verfassunggebenden Gewalt – also eines europäischen Volkes, eines Parlaments als alleinigem Gesetzgeber und eines tatsächlichen Schutzes der Grundrechte – vehement ab.
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Mit den Jahren nahm der Streit zwischen Spezialisten mit unterschiedlichen konzeptionellen Ansätzen jedoch tendenziell ab. Zwischen den Fachvereinigungen beider Gruppen (Französische Vereinigung für Verfassungsrecht – Association française des constitutionnalistes, Vereinigung Europäischer Studien – Commission pour l’Etude des Communautés Européennes) findet heute ein regelmäßiger Austausch statt.[101] Die Trennlinie besteht nicht mehr so sehr zwischen „constitutionnalistes“ und „communautaristes“ als vielmehr zwischen den Autoren, die sich auf den Nationalstaat beziehen, und denen, die auf den Besonderheiten der EU beharren. Erstere teilen sich in zwei Gruppen. Einige, wie L. Favoreu, gehen von den zwingenden Elementen nationaler Verfassungen (Volk, Staat) aus, um damit die Unmöglichkeit zu begründen, Gründungsverträge und Verfassung gleichzusetzen. Andere verweisen zur Begründung des Verfassungscharakters der Verträge auf die allmähliche Annäherung der EU an bestehende politische Organisationsformen. Die als Modell dienende politische Organisationsform ist je nach Verfasser unterschiedlich. Das kann der Staat sein[102] oder ein Staatenverbund[103]. Die methodologische Grundlage ist jedenfalls identisch: Beide gehen von einem bestehenden Modell aus und vergleichen die EU mit ihm. Die Verfechter der EU als einer Einrichtung sui generis, meisterhaft vertreten von L. Azoulay,[104] weisen einen Vergleich zwischen den Verträgen und einer Verfassung unter Verweis auf den wesentlichen Unterschied zwischen den von ihnen verfassten politischen Einheiten zurück. Verfassungen bilden die Grundlage der staatlichen Rechtsordnung und eines staatlichen politischen Systems. Die Verträge schüfen hingegen keinen Staat. Ausgehend von dieser Feststellung prüft L. Azoulay die Verträge, auch den VVE, unter spezifischen Gesichtspunkten und versucht, ihren Gegenstand zu identifizieren. Er kommt zu dem Schluss, dass die Verträge keine Bürgerschaft begründen, so dass es begrifflich auch kein europäisches Volk gibt. Dagegen begründeten die Verträge eine soziale Körperschaft und stellten so eine „Gesellschaftsverfassung“ dar. Diese betone die der europäischen Gesellschaft gemeinsamen Werte. Die Beteiligung der „Bürgergesellschaft“ am politischen System werde skizziert, z.B. durch die den Sozialpartnern zukommenden Funktionen. Die Absicht dieser Untersuchung ist eine Betrachtung der Union „von innen heraus“ und nicht in Bezug auf ein vorgegebenes staatliches Modell. Sie ermöglicht zugleich, den Stand der Integration mit dem von den „constitutionnalistes“ geäußerten Hauptkritikpunkt zu versöhnen: dem Fehlen eines verfassunggebenden Volkes. Damit übergeht sie die politischen Existenzbedingungen einer Verfassung nicht, sondern lässt Raum für Überlegungen zu den den Bürgern bei der Errichtung der Europäischen Union zukommenden Funktionen.
2. Theoretische und politische Widerstände gegen die verfassungsmäßige Verankerung des Gemeinschaftsrechts
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Auch wenn heute niemand mehr prinzipiell die konstitutionelle Tragweite der Errichtung Europas bezweifelt, stößt die Verankerung Europas in der Verfassung immer noch auf Widerstände. Zur Ablehnung oder Begrenzung dieses Verankerungsprozesses in der Verfassung vermischen sich theoretische Argumente mit politischen Überlegungen. Die Verteidigung des „französischen Modells“ (a) hat nicht nur, sondern auch konstitutionelle Auswirkungen. Gleiches gilt für die Ablehnung, in der europäischen Integration etwas anderes als ein Phänomen außerhalb des französischen Rechts zu sehen (b).
a) Verteidigung des „französischen Modells“
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Pascal Lamy, ehemaliger europäischer Kommissar, hat kürzlich die konstitutiven Bestandteile dieses „französischen Modells“ analysiert, auf das Politiker und Gewerkschaftler so stolz sind.[105] Dieses Modell beruht auf der zentralen Rolle des Staates, dem einzigen Garanten republikanischer Werte und nationaler Integrität. Von den republikanischen Werten ist die Gleichheit für die Franzosen sicher das kostbarste Gut, wie schon Tocqueville vorhersah[106]. Die Gleichsetzung von Staat, Republik und Demokratie macht die Akzeptanz von außen kommender Ideen und die Bewältigung globaler Veränderungen sehr schwierig. Die schwerfällige Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention ist hierfür ein gutes Beispiel.[107] Als Grundlage der Republik haben Dienstleistungen von allgemeinem Interesse eine besondere Bedeutung. Solche gibt es natürlich auch außerhalb Frankreichs; doch bringen sie nirgends so sehr eine politische Philosophie zum Ausdruck wie hier[108]. Diese Besonderheit erklärt insbesondere die französischen Vorbehalte gegenüber der Umsetzung des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft. Auch macht sie die Gewöhnung an die Vorstellung einer Verfassung, die sich vom republikanischen französischen Modell entfernt, äußerst schwierig. Von den Argumenten über die Beeinträchtigung der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse wurde von den Gegnern des VVE vor dem Referendum vom Mai 2005 reichlich Gebrauch gemacht. Allgemein scheint es, dass ein Großteil der Rechtslehre Mühe hat, sich die Verankerung des europäischen Rechts in der Verfassung vom Staatsmodell getrennt vorzustellen. Zwar haben nicht nur französische Autoren diese Schwierigkeit, aber ihr Ausmaß mag in Frankreich aufgrund der Wirkungskraft des republikanischen französischen Modells besonders groß sein. Dies erklärt die aktuellen Widerstände, und es bleibt aufzuzeigen, wie eine Versöhnung zwischen der Treue zu republikanischen Werten und der Verankerung Europas in der französischen Verfassung möglich ist.
b) Europäische Integration als ein dem französischen Recht fremdes Phänomen
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Wie bereits aufgezeigt, wird Europa generell in den Kategorien des internationalen Rechts begriffen.[109] Die Verteidigung Frankreichs vor den europäischen Instanzen erfolgt durch hohe Beamte des Außenministeriums. Europäische Verhandlungen werden unter Leitung des Staatspräsidenten geführt – einmalig in Europa. Medien und Politiker stellen die EU im Allgemeinen als Ursache für Beschränkungen dar, welche die Franzosen hinzunehmen haben oder geschickt umgehen müssen. Die institutionelle Organisation Frankreichs und seine politischen sowie die durch Medien bestimmten Traditionen tragen daher dazu bei, Europa im Schoß des Außenministeriums zu belassen. Dies muss geändert werden, um die konstitutionelle Dimension der europäischen Integration in Frankreich zum Tragen zu bringen.
Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 15 Offene Staatlichkeit: Frankreich › Bibliographie
Bibliographie
G. Alberton, L’article 88–4 de la Constitution ou l’avènement d’un nouveau Janus constitutionnel, RDP 1995, S. 921 |
L. Aliot, Les présidents français et l’Europe sous la Ve République, RDP 2003, S. 163 |
S. Braconnier, Jurisprudence de la Cour européenne des droits de l’homme et droit administratif français, 1997 |