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dieser Beschluss damals noch nicht rechtskräftig war (die Große Kammer wurde damit befasst) und der Gerichtshof zur Begründung seiner Entscheidung nachdrücklich auf die besonderen Gegebenheiten in der Türkei abstellte. Daran wird deutlich, dass „der Geist“ Straßburgs sowohl Fortschritte in der französischen Rechtsprechung bewirken als auch zweifelhafte Auslegungen der Konvention rechtfertigen kann. Insgesamt hatte die EMRK sicher einen positiven Einfluss auf die Verwaltungsgerichte. Sie hat dazu geführt, dass diese das Verwaltungsrecht verstärkt zu Gunsten des Einzelnen interpretieren und ihre Aufmerksamkeit nicht mehr nur dem Allgemeininteresse zuwenden. Nach und nach haben die Individualrechte so an Bedeutung gewonnen.[87] Die Rechtsprechung hat sich damit vom Garanten des Allgemeininteresses (Legalitätsprinzip) zum höchsten Verteidiger der Rechte und Freiheiten des Individuums gewandelt und sich damit der deutschen Konzeption angenähert.
b) Conseil constitutionnel
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An der Übernahme der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofs in die Verfassungsrechtsprechung bestehen keine Zweifel. Sie ist Teil der auf die fortschreitende Integration in die Europäische Union zurückgehenden „Internationalisierung der nationalen Verfassungen“[88]. Doch ist der tatsächliche Einfluss der EMRK auf den Conseil constitutionnel schwer zu messen, da er sich praktisch nie auf ihre Bestimmungen und weit weniger noch auf die Entscheidungen des Gerichtshofs bezieht. Die Ablehnung einer Einbeziehung der Konvention in den „bloc de constitutionnalité“, also in die Gesamtheit der vom Gesetzgeber zwingend zu beachtenden Normen, dessen Achtung der Conseil constitutionnel überwacht, erklärt dieses Schweigen.[89] Diese Haltung stützt sich auf eine strenge Auslegung der französischen Verfassung und erleichtert dem Conseil constitutionnel, die EMRK nur implizit anzuwenden.[90] Die Ausweitung der Rechte der Verteidigung durch das Verfassungsgericht, die weite Auslegung der Meinungsfreiheit oder auch die Bereicherung mancher Auslegungsmethoden bezeugen jedoch den Einfluss der europäischen Rechtsprechung.[91]
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Es gibt Anzeichen, dass der Conseil constitutionnel seine „Inspirationsquellen“ künftig offener ausweisen will. In diese Richtung deutet namentlich seine Entscheidung über die Vereinbarkeit des VVE mit der französischen Verfassung.[92] In der Begründung zu dieser Entscheidung erwähnt der Conseil constitutionnel ausdrücklich die Festlegung des EGMR zur Religionsfreiheit in seiner ersten Entscheidung in Sachen Leyla Sahin und bezieht sich in den Entscheidungsgründen auf sie. Dass er die Entscheidung des EGMR dabei verkürzt, mag man bedauern.[93] Er scheint aber auch die für den EGMR geltenden Verfahrensregeln zu verkennen, indem er sich auf einen damals noch nicht rechtskräftigen Beschluss stützt, da von der Antragstellerin die Große Kammer des Gerichtshofs angerufen worden war. Es ist verfrüht, aus dieser Entscheidung definitive Schlussfolgerungen über die Aussöhnung zwischen der von der Konvention zugestandenen Religionsfreiheit und dem von der französischen Verfassung betonten Laizismus zu ziehen. Überdies übernimmt der Conseil constitutionnel die vom Gerichtshof zum türkischen Recht gezogene Schlussfolgerung in französisches Recht, ohne zu erwähnen, dass der EGMR stark auf die Besonderheiten der türkischen Situation abstellt. Es hat daher den Anschein, dass der Conseil constitutionnel die europäische Rechtsprechung vor allem dann zitiert, wenn sie ihm ermöglicht, zum gewünschten Ergebnis zu kommen: So hat er, um die Vereinbarkeit der Grundrechtecharta der Europäischen Union mit der französischen Verfassung unter Beweis zu stellen und zugleich alle zu beruhigen, die sich in Frankreich Sorgen um das sehr heikle Thema der Erhaltung des französischen Laizismusmodells machen, auf die EMRK Bezug genommen. Die Grundrechtecharta ist weitgehend eine Kopie der EMRK, und wenn der Conseil constitutionnel die Grundrechtecharta interpretiert, interpretiert er zugleich die EMRK. Wenngleich der Beschluss des Conseil constitutionnel nicht ohne Kritik geblieben ist,[94] so kann man doch hoffen, dass dieser erste tastende Versuch einer expliziten Umsetzung der europäischen Rechtsprechung andere Entscheidungen nach sich ziehen wird, die den Ansprüchen des EGMR besser gerecht werden.
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IV. Die Europäisierung der französischen Verfassung
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Auch wenn das Interesse eines Teils der Lehre – der so genannten „communautaristes“ – am Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zu französischem Recht so alt ist wie die Gemeinschaft selbst, so ist es doch lange auf diese kleine Gruppe von Spezialisten beschränkt geblieben. Erst mit dem Vertrag von Maastricht begannen andere Autoren – die so genannten „constitutionnalistes“ –, sich mit diesem neuen Forschungsgegenstand zu befassen. Man kann davon ausgehen, dass ein Wandel der Rechtslehre zu Beginn der 1990er Jahre einsetzte (1). Dennoch bestehen in Frankreich weiterhin manche Widerstände gegen eine Verankerung des Gemeinschaftsrechts in der Verfassung (2).
1. Wandel der Lehrmeinung
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Das wichtigste Merkmal der Entwicklung der Rechtslehre im Hinblick auf das europäische Recht – das Gemeinschaftsrecht ebenso wie die Europäische Menschenrechtskonvention – ist die zunehmende konstitutionelle Tragweite dieser Rechtsordnungen. In der Lehre wird in letzter Zeit verstärkt der Einfluss des europäischen Rechts auf die Verfassung sowie der Verfassungscharakter der Verträge diskutiert. Die Diskussion über den Verfassungscharakter (b) hat eine Annäherung beider einst konträrer Lehrmeinungen ermöglicht (a).
a) Kontroversen zwischen den „constitutionnalistes“ und „communautaristes“
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Bis zu Beginn der 1990er Jahre interessierten sich kaum mehr als Spezialisten dieses Rechtsgebiets für die konstitutionelle Dimension des europäischen Rechts, die auch nur für das Gemeinschaftsrecht in Betracht gezogen wurde. Die Rechtsprechung des EGMR hatte noch nicht dazu geführt, das Augenmerk auf die konstitutionellen Entwicklungsmöglichkeiten der EMRK zu richten. Insgesamt zeigten sich die „constitutionnalistes“ am Gemeinschaftsrecht, das sie als Sonderform des Völkerrechts hinnahmen, kaum interessiert. Die „communautaristes“ führten Diskussionen, die sich nicht direkt auf den Verfassungscharakter der Verträge bezogen, sondern diesen indirekt berührten. Von Anfang der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre konzentrierte sich die verfassungsrechtliche Debatte der Vertreter der „communautaristes“ auf die vehement diskutierte Frage der Rechtsnatur der Gemeinschaften: Internationale Organisation oder Staat? Konföderation oder Föderation? Dies waren die hauptsächlich gestellten Fragen.[95]
b) Debatte über den Verfassungscharakter
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Mehrere Entwicklungen änderten die Grundlage der Debatte. Verursacht wurden diese Entwicklungen von der europäischen Rechtsprechung wie auch von der sich beschleunigenden Zahl von Vertragsänderungen. Durch die Feststellung des EuGH, dass der Vertrag zur Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ darstellte, gab der Europäische Gerichtshof der Rechtslehre eine neue Ausrichtung.[96] Der EGMR hat mit seiner Behauptung der Existenz einer auf der Konvention basierenden „europäischen öffentlichen Ordnung“ seinerseits die Rechtslehre aufgefordert, sich mit der konstitutionellen Tragweite der EMRK zu befassen.[97] Die Ausarbeitung des Vertrages von Maastricht und seine Ratifikation führten zu zahlreichen Lehrmeinungen zum Thema politische Union. Einige „constitutionnalistes“ begannen, sich näher mit einem Vertrag zu befassen, dessen Vokabular dem Verfassungsrecht entlehnt ist. Die Erwähnung einer Unionsbürgerschaft, die Stellung des Parlaments als „Mitgesetzgeber“ und die Anerkennung der Geltung von Grundrechten mussten auf Resonanz bei den Spezialisten des Verfassungsrechts stoßen. Die meisten ihrer Beiträge behandelten das Verhältnis der Verträge zum