Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
werden. Gemäß Art. 55 CF besitzt sie daher eine „höhere Autorität als die Gesetze“. Obwohl der Wortlaut der Konvention einfach schien, war die Stellungnahme der Richter weniger eindeutig und offenbart noch heute einige Ungereimtheiten. Die Zivil- und Verwaltungsgerichte (a), angeführt jeweils von der Cour de Cassation und vom Conseil d’État, hatten einige Mühe, sich an dieses von außen hereingetragene Recht zu gewöhnen. Beim Conseil constitutionnel (b), der die Konvention erst kürzlich „entdeckte“ und offenbar Schwierigkeiten hat, sie voll und ganz in seine Rechtsprechung zu integrieren, ist dieses Phänomen noch auffälliger.
a) Zivil- und Verwaltungsgerichte
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Erst Ende der 1980er Jahre legte die Rechtsprechung ihre Zurückhaltung ab und war bereit, alle Konsequenzen aus der Ratifizierung der EMRK zu ziehen. Einige Jahre später wurden ihre Auswirkungen auf die unterschiedlichen Bereiche des französischen Rechts für die Rechtslehre zum Studienobjekt ersten Ranges.[66] Die Haltung der französischen Gerichte, insbesondere der Obergerichte Cour de Cassation und Conseil d’État, zeugt vom aufrichtigen Willen, die EMRK anzuwenden. Gedämpft wird dieser allerdings durch die Ablehnung, sich voll und ganz einer der französischen Rechtsordnung fremden Rechtsprechung zu unterwerfen. Die Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR stößt daher bisweilen auf Widerstände.
aa) Zivilgerichte
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Die Zivilgerichte waren bereitwilliger als die Verwaltungsgerichte, die Anwendbarkeit der Konvention und ihren Vorrang vor dem französischen Recht anzuerkennen. Wie schon beim Gemeinschaftsrecht legten sie eine eigene Herangehensweise zugrunde. Bereits 1975 entschied die Strafkammer der Cour de Cassation, dass die Bestimmungen der Strafprozessordnung zur Untersuchungshaft mit der EMRK unvereinbar waren.[67] Seit diesem Datum zeugen zahlreiche Entscheidungen verschiedener Kammern der Cour de Cassation vom Willen dieser obersten Gerichtsinstanz, über die Einhaltung der Konvention zu wachen. Am häufigsten wird hierbei auf Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) zurückgegriffen. Die Abhörmaßnahmen sind eines der aufsehenerregendsten Beispiele für den Einfluss der Konvention auf die Zivilgerichte. Die äußerst laxe französische Bestimmung zu Abhörmaßnahmen wurde vom EGMR in seinem Beschluss Kruslin und Huvig aus dem Jahr 1990 als mit Art. 8 EMRK unvereinbar erklärt.[68] Kaum einen Monat später hat die Cour de Cassation ihre Rechtsprechung modifiziert und dem Standpunkt des EGMR angeglichen.[69] Der Gesetzgeber ist dem schließlich gefolgt und hat für die Polizeiorgane strengere allgemeine Vorschriften bei Abhörmaßnahmen festgelegt.[70] Freilich ist die Umsetzung der EMRK durch den Kassationsgerichtshof nicht immer so spektakulär. Aus einem den Obergerichten eigenen Unabhängigkeitsbestreben heraus ist er dem EGMR häufig gefolgt, ohne ausdrücklich auf dessen Rechtsprechung Bezug zu nehmen. Er führte dabei häufig die unterschiedlichsten Artikel der EMRK an, ohne deutlich zu machen, dass die gewählte Auslegung auf den EGMR zurückgeht. Das französische Recht zur Transsexualität wurde auf diese Weise den Ansprüchen des EGMR angepasst.[71] Manchmal treibt ihn sein Autonomiestreben noch weiter, so dass er seine Entscheidungen allein auf französisches Recht stützt, ohne auch die Konvention zur Untermauerung seiner Schlussfolgerung zu zitieren. Die neue Zivilprozessordnung wird Art. 6 EMRK, Art. 9 Code civil der Bestimmung des Art. 8 EMRK vorgezogen.[72]
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Schwerwiegender noch ist, dass die Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofs hin und wieder rebellische Anwandlungen gegenüber dem EGMR zeigt, wobei die punktuelle Ablehnung seiner Rechtsprechung mit einem Rest unangebrachter Empfindlichkeit gegenüber europäischen Richtern erklärt werden kann. Dies war etwa in Sachen Papon der Fall, einem früheren Generalsekretär der Präfektur der Gironde, dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt wurden. Ein alter Artikel der Strafprozessordnung untersagte dem Kassationsgerichtshof, sich der Sache anzunehmen, solange der Verurteilte auf der Flucht war. Diese Vorschrift wurde vom Gesetzgeber im Jahr 2000 aufgehoben. Mit seinem Beschluss Poitrimol hatte der EGMR entschieden, dass diese Bestimmung mit Art. 6 Abs. 1 der Konvention insofern unvereinbar war, als sie bestimmten Verurteilten das Recht absprach, sich an ein Gericht zu wenden.[73] Dennoch wurde der Revisionsantrag Papons für unzulässig erklärt, da er nicht vor dem Gericht erschienen war. Der Europäische Gerichtshof war daher gezwungen klarzustellen, dass Art. 6 Abs. 1 erneut verletzt worden war.[74] Die Ablehnung einer europäischen Rechtsauslegung kann ihre Erklärung auch in der Treue zum französischen Recht oder dem Willen finden, den Gesetzgeber reagieren zu lassen. Dies war anlässlich der – ungerechten – Erbfolgeregelungen für nichteheliche Kinder der Fall. Trotz der vom EGMR seit 1979 im Namen des Rechts auf Schutz der Familiensphäre empfohlenen Gleichbehandlung solcher Kinder hat es die Cour de Cassation abgelehnt, die Unvereinbarkeit der Bestimmungen des französischen Zivilgesetzbuchs mit der Konvention festzustellen.[75] Die gleiche Haltung lässt sich auch bezüglich einiger Strafverfahrensregelungen beobachten.[76]
bb) Verwaltungsgerichte
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Die Verwaltungsgerichte hatten – wie schon bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts – noch längere Zeit Vorbehalte gegen eine Umsetzung der EMRK. Ihre Treue zum Vorrang des Gesetzes hielt sie lange davon ab, den Vorrang von Normen fremden Ursprungs gegenüber später in Frankreich erlassenen Gesetzen anzuerkennen. Nach Anerkennung des Vorranges des internationalen Rechts auch gegenüber später verabschiedeten Gesetzen im Beschluss Nicolo aus dem Jahr 1989[77] hat das oberste Verwaltungsgericht allerdings nicht mehr gezögert, sich auf die EMRK zu beziehen und die mit ihr unvereinbaren Gesetze oder Verordnungen zurückzuweisen. Die Bestimmungen der Konvention, die die Verwaltungsrechtsprechung am meisten beeinflusst haben, sind Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), Art. 6 EMRK (Recht auf einen fairen Prozess) und Art. 8 EMRK (Recht auf Schutz der Familiensphäre). Nach langem Widerstand hat der Conseil d’État schließlich auch die Anwendung von Art. 6 EMRK bei Verfahren vor Berufsgerichten wie der Ärztekammer akzeptiert.[78] Gestützt auf Art. 3 EMRK lehnt er wie der EGMR die Auslieferung eines Ausländers an ein Land ab, in dem dieser mit der Todesstrafe rechnen muss.[79] Die tatsächliche Öffnung der Verwaltungsrechtsprechung für die Konvention darf freilich nicht verschleiern, dass der Conseil d’État, wie der Kassationsgerichtshof, danach strebt, seine Unabhängigkeit gegenüber dem EGMR zu bewahren. Als Gericht letzter Instanz vermeidet er den Eindruck, sich systematisch den in Straßburg vertretenen Standpunkten anzupassen. Er erklärt die Konvention für anwendbar, doch wendet er sie nicht immer wie vom EGMR vorgegeben an, wie etwa seine Entscheidungen in Abschiebungsverfahren illustrieren. Seit 1991 vertritt der Conseil d’État insoweit die Auffassung, dass die von der Verwaltung angeordnete Abschiebung von Ausländern unter Beachtung des von Art. 8 EMRK eingeräumten Rechts auf Schutz der Familiensphäre zu überprüfen ist.[80] Gleichwohl blieb er dabei hinter dem Europäischen Gerichtshof zurück und legte Art. 8 EMRK weniger streng aus. Gleiches gilt für die Meinungsfreiheit.[81]
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Über punktuelle Einflüsse auf diverse Aspekte der Verwaltungsrechtsprechung hinaus haben die EMRK und die aus ihr resultierende Rechtsprechung weitergehende Einflüsse auf die Verwaltungsgerichte. S. Braconnier hat ihnen besondere Aufmerksamkeit gewidmet.[82] Die Gerichte, wie im Übrigen auch der Gesetzgeber, berücksichtigen jedenfalls „den Geist“ der Entscheidungen des EGMR. Ohne diesen zu zitieren, hat der Conseil d’État manche Verfügung erlassen, die die Grundrechte in deren Sinn auslegt. So hat er die gerichtliche Überprüfung behördlicher Ordnungsmaßnahmen zugelassen, etwa von Disziplinarstrafen in Gefängnissen oder in der Armee. Solche Maßnahmen galten noch bis vor kurzem als rein verwaltungsintern und waren damit der gerichtlichen Kontrolle nicht unterworfen.[83] Auch bei Auslegung der Religionsfreiheit ist der Conseil d’État stillschweigend den Entwicklungen der europäischen Rechtsprechung gefolgt. Nachdem er zunächst die Auffassung vertreten hatte, dass das Tragen religiöser Symbole durch Schüler öffentlicher Schulen im Prinzip zuzulassen sei,[84] hat er eingeräumt, dass der Gesetzgeber (Gesetz vom 15. März 2004) ein grundsätzliches Verbot