Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
Grundlage, die allein eine solche Souveranitätsbeschränkung Italiens rechtfertigen könnte. Man muss vielmehr weiterhin davon ausgehen, dass der Status der Umsetzungsnormen der EMRK (und anderer völkerrechtlicher Verträge zum Schutz der Menschenrechte) derselbe ist wie der der Umsetzungsnormen jedes anderen Vertrages: Allein das Verfassungsgericht kann daher spätere nationale, im Widerspruch zum Umsetzungsgesetz der EMRK stehende Gesetze prüfen und dabei, soweit möglich und verfassungsmäßig, die vom Straßburger Gerichtshof vertretene Auslegung übernehmen.[83] Der einzige Fall, in dem ein nationales Gericht eine Vorschrift der EMRK direkt anwenden könnte anstelle des mit dem Umsetzungsgesetz kollidierenden nationalen, auch späteren, Gesetzes, ist der, in dem ein bestimmtes Recht der EMRK in einer früheren Entscheidung des EuGH als allgemeines Prinzip der Gemeinschaftsrechtsordnung verstanden wurde; in diesem Fall wäre es aber, genau betrachtet, nicht die EMRK-Norm oder die entsprechende nationale Umsetzungsnorm, sondern ein allgemeines Prinzip des Gemeinschaftsrechts, das, da es unmittelbar in der nationalen Rechtsordnung gilt, Grundlage für die Nichtanwendung des nationalen Rechts wäre.[84]
a) Die Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit der EMRK
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Im Zusammenhang mit der Anerkennung des self-executing-Charakters der EMRK, d.h. der Möglichkeit der direkten Anwendung der dort niedergelegten Rechte und Freiheiten durch die Gerichte, ist es zu einem Rechtsprechungskonflikt zwischen den verschiedenen Sektionen der Corte di Cassazione gekommen. Zunächst wurde der EMRK der self-executing-Charakter abgesprochen, insbesondere mit der Begründung, dass die Bestimmungen der EMRK als Vertragsbestimmungen nur die „Hohen Vertragsparteien“ binden können.[85] Ein anderer Ansatz stützte sich auf den self-executing-Charakter der Bestimmungen der EMRK mit Ausnahme derer, die zu allgemein gefasst waren, um direkt anwendbar zu sein. Dieser Ansatz wurde auf Art. 1 EMRK gestützt, der bestimmt, dass die Vertragsparteien dem Einzelnen die in der Konvention niedergelegten Rechte und Freiheiten „zusichern“ (und sie sich nicht nur „verpflichten, sie zu achten“, wie andere völkerrechtliche Verträge es vorsehen, u.a. auch der Pakt über bürgerliche und politische Rechte). Aus dieser „Zusicherung“ folge, dass „[…] im Innern jedes Staates der Schutz der Menschenrechte für den Einzelnen nicht indirekt gewährleistet ist über die Verpflichtung des Normadressaten, nämlich des Staates, sondern direkt, weil die Menschenrechte dem Einzelnen als Attribut seiner Persönlichkeit eigen sind, und die Konvention einerseits formal deren Existenz anerkennt [Art. 1 EMRK, Anm. d. Verfassers] und andererseits dem Einzelnen die Aktivlegitimation zu ihrer gerichtlichen Durchsetzung überträgt [Art. 13 EMRK, Anm. d. Verfassers]“[86]. Die Corte di Cassazione ist seit dem Urteil Polo Castro von 1989,[87] das diesen Rechtsprechungsstreit gelöst hat, dem zweiten der oben angeführten Ansätze gefolgt. Sie vertritt seit dieser Entscheidung in ständiger Rechtsprechung, dass die Bestimmungen der EMRK nach ihrer Umsetzung in innerstaatliches Recht grundsätzlich, d.h. mit Ausnahme derer, die zu allgemein gefasst sind, direkte Quelle von Rechten und Pflichten aller Rechtssubjekte sind, und dass folglich die entsprechenden Rechte und Pflichten vom Einzelnen vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden können.[88] Es muss jedoch erwähnt werden, dass trotz dieser prinzipiellen Auffassung, die in allen Urteilen der Corte di Cassazione wiederholt wird, in denen es um die Anwendung der EMRK geht, in vielen Fällen, einschließlich der Leitentscheidung Polo Castro, für die einzelnen, im konkreten Fall erheblichen Bestimmungen der EMRK sehr häufig die direkte Anwendbarkeit verneint wurde.[89]
b) Die Rolle der EMRK und der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs vor den Fachgerichten und der Corte costituzionale
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Die Fachgerichte und die Corte costituzionale greifen häufig auf die sog. menschenrechtsfreundliche Auslegung der nationalen Bestimmungen zurück. Das geschieht vor allem mit Bezug auf den Wortlaut der Bestimmungen der EMRK und das „lebende Recht (diritto vivente)“, also das EMRK-Recht, wie der EGMR es interpretiert, obwohl sowohl die Corte di Cassazione als auch die Corte costituzionale noch nicht eindeutig geklärt haben, ob und inwieweit die Urteile des EGMR (und vor allem die gegen Italien ausgesprochenen Urteile) eine bindende Wirkung den Nationalgerichten gegenüber besitzen[90]. In diesem Zusammenhang muss man jedoch zwei Alternativen unterscheiden: Die erste ist die menschenrechtsfreundliche Auslegung der einfachen Gesetze (oder ggf. der untergesetzlichen Normen), die ohne weiteres mit dem allgemeinen Prinzip der völkerrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts vereinbar ist und demgemäß keine besonderen theoretischen Probleme aufwirft. Die andere hingegen ist die menschenrechtsfreundliche Auslegung bzw. Ergänzung der Verfassungsbestimmungen durch die Corte costituzionale unter Rückgriff auf Bestimmungen in Menschenrechtsverträgen.[91] In diesem Fall ergeben sich eine ganze Reihe theoretischer Probleme, da die Verfassung in der nationalen Normenhierarchie einen höheren Rang einnimmt als die Umsetzungsnormen internationaler Verträge, einschließlich der Menschenrechtsverträge. Damit entsteht also die Situation, dass die Verfassung im Licht einfacher Gesetze ausgelegt (oder sogar ergänzt) wird. Dies gilt insbesondere im Fall der EMRK, eines echten verfassungsexternen Rechtssystems, das über ein Gerichtsorgan verfügt, dessen Auslegungstätigkeit letztendlich die Auslegung der Verfassungsbestimmungen beeinflussen kann. Die Auslegung der Verfassung am Maßstab einfacher, auch nach der Verfassung in Kraft getretener Gesetze, wurde jedoch ohnehin bereits weitgehend vom Verfassungsgericht praktiziert, insbesondere vor der Verfassungsreform zur Föderalisierung im Jahre 2001, um den Umfang der Zuständigkeiten der Regionen zu bestimmen.[92] Auch wenn diese Praxis überwiegend akzeptiert wurde, so hat sie doch von einem nicht unerheblichen Teil der Lehre herbe Kritik erfahren, die eine Verletzung der Bestandskraft des Verfassungstextes für unerträglich hält, weil damit eine Änderung der Abgrenzung der Zuständigkeiten ohne Anwendung des erschwerten Verfahrens der Verfassungsänderung möglich wurde.[93] An der menschenrechtsfreundlichen Auslegung der Verfassung wird eine vergleichbare Kritik dagegen nicht geübt, obwohl auch sie die Bestandskraft der Verfassung abschwächt. Wie erklärt sich diese unterschiedliche Haltung der Lehre gegenüber einem wesentlich sensibleren Teil der Verfassung als der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Staat und Regionen? Der Grund dürfte in der breiten Akzeptanz der Bedeutung der Menschenrechte in der italienischen Rechtslehre liegen, die einerseits wohl auf die große Bedeutung dieser Normen zurückzuführen ist,[94] die als Träger einer „progressiven“ Verfassungsentwicklung angesehen werden, und andererseits ihre „naturgegebene“ Begabung, die notgedrungen sehr allgemeinen Verfassungsbestimmungen über die Grundrechte zu ergänzen. Die EMRK (einschließlich des „lebenden Rechts“ der Rechtsprechung) und andere internationale Menschenrechtsverträge, die vor der Reform des Jahres 2001 keinen übergesetzlichen Rang einnahmen, sind de facto von der Verfassungsrechtsprechung und der Doktrin als integraler Bestandteil der „materiellen Verfassung“ des Staates angesehen worden, auch weil sie im Allgemeinen als eine Fortentwicklung der zumindest implizit in der Verfassung enthaltenen Prinzipien verstanden werden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Auslegung der Verfassung nach Maßgabe der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR Grenzen kennt, wonach in dem (eher unwahrscheinlichen) Fall eines unüberbrückbaren Widerspruchs zwischen (Umsetzungs-)Normen der EMRK und Verfassung letzterer Vorrang zukommt. Die menschenrechtsfreundliche Auslegung kann folglich akzeptiert werden, solange sie sich darauf beschränkt, in der Verfassung allgemein niedergelegte Bestimmungen fortzuentwickeln und zu spezifizieren; sobald sie in Widerspruch zur Verfassung stünde, ist sie hingegen ausgeschlossen.
Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 18 Offene Staatlichkeit: Italien › IV. Schlussbemerkungen
IV. Schlussbemerkungen
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Aus den bisherigen Darlegungen lassen sich aus der Perspektive der Verfassung einige Schlussfolgerungen für die Anpassung der italienischen Rechtsordnung an die Gemeinschaftsrechtsordnung