Handbuch des Strafrechts. Dennis Bock
einen „dem Recht zuwiderlaufenden Vorteil“, um Situationen auszuscheiden, in denen der Täter Druck ausübt, um einen Vermögensvorteil zu erlangen, auf den er zwar keinen Anspruch hat, der aber gleichwohl als sozialüblich erachtet wurde, so z.B. wenn der Beleidigte die Rücknahme seiner Privatklage von der Zahlung einer „Geldbuße an die Armenkasse“ abhängig macht.[31]
20
Der E 1913, der kriegsbedingt erst 1920 veröffentlicht wurde, nahm die Kritik an der Weite des E 1909 teilweise auf und verlangte in § 365 für die Erpressung – in der Drohungsvariante – entweder die Drohung mit einem „anderen rechtswidrigen Verhalten“ oder eine „Drohung, die den Gewohnheiten des redlichen Verkehrs widerspricht“. Ähnlich restriktiv war die Fassung in § 370 des E 1919, der bei der Drohung allein die Drohung mit einem Verbrechen oder Vergehen oder einer Strafanzeige bzw. „anderen Nachteilen für Ehre oder guten Ruf“ genügen ließ. Dass der Tatbestand auf diese Weise auf Fälle der Gewalt und auf die Chantage eingeengt worden wäre, wurde von den Entwurfsverfassern gesehen, doch stellten sich diese auf den Standpunkt, dass eine zu enge Tatbestandsfassung einer zu weiten gegenüber vorzugswürdig sei.[32]
21
Die weiteren Bemühungen um eine Totalreform des Reichsstrafgesetzbuches begannen mit dem Entwurf Radbruch, der im Zeichen einer liberalen Neuordnung des Strafrechts stand und u.a. auf die Todesstrafe und eine Vielzahl von Sittlichkeitsdelikten verzichtete. Dieser Entwurf übernahm die enumerative Technik des E 1919 und ließ in § 298 für die Erpressung das Merkmal der „gefährlichen Drohung“ ausreichen. Diese wiederum wurde in § 11 Nr. 7 StGB-E als „Drohung mit Gewalt, mit einem Verbrechen oder Vergehen, mit einer Strafanzeige oder der Offenbarung einer Tatsache, die geeignet ist, den Ruf zu gefährden“ legal definiert. Der vom Reichskabinett schließlich dem Reichsrat zur Beratung vorgelegte E 1925 verwässerte zwar in vielerlei Hinsicht den liberalen Impetus des Radbruchschen Reformentwurfs, ließ jedoch die Vorschriften zur Erpressung unverändert.[33] Auch die Beratungen im Reichsrat, die in der Reichstagsvorlage des E 1927 gipfelten, führten lediglich zu redaktionellen Änderungen. Bemerkenswert an diesem Reformvorschlag war einerseits die sehr enge tatbestandliche Begrenzung der Erpressung, die ausdrücklich unter Hinweis auf die als misslich empfundene Arbeitskampfrechtsprechung des Reichsgerichts gewählt wurde.[34] Andererseits fällt das völlige Fehlen einer Strafvorschrift zur räuberischen Erpressung auf. Letztere war in den Entwürfen gegenüber dem Verbrechen des Raubes insoweit deutlich privilegiert.
5. Die Erpressung im Nationalsozialismus
22
Die Diskussion einer Strafrechtsreform im Nationalsozialismus stand zwischen Kontinuität und Umbruch[35] und wurde von einer Vielzahl von Akteuren getragen. Die Kontinuität zeigte sich im E 1933 des Reichsjustizministeriums, der schlicht eine überarbeitete Version des E 1927 darstellte. Hinsichtlich des Erpressungstatbestandes behielt der Entwurf die Regelungstechnik des Vorentwurfs bei, erweiterte diesen aber entscheidend. Denn die „gefährliche Drohung“ nach § 9 Nr. 7 StGB-E sollte nun auch die Androhung eines „anderen empfindlichen Übel[s]“ erfassen, „wenn es gegen die guten Sitten verstößt, dieses Übel zu dem verfolgten Zweck anzudrohen oder zuzufügen“. In der Sache war damit vieles vorweggenommen, was zehn Jahre später Gesetz werden sollte. Dem entsprach auch der E 1936, der die Vorschrift nur redaktionell umgestaltete.[36] Die noch in der Weimarer Zeit angestrebte rechtsstaatliche Begrenzung des Tatbestands war den Zielen des nationalsozialistischen Strafrechts, eine Auflockerung der Begrenzungsfunktion des Strafrechts zu erreichen, ohnehin zuwider. So enthielten beide Reformentwürfe das mittlerweile Gesetz gewordene Analogiegebot in § 2 RStGB. Weitere Reformüberlegungen stellte auch die 1933 gegründete Akademie für Deutsches Recht an.
23
Der Krieg verhinderte jedoch die geplante Totalreform des Strafrechts.[37] Eine Veränderung erfuhr der Straftatbestand der Erpressung indes mit der Strafrechtsangleichungsverordnung vom 29. Mai 1943.[38] Durch Art. 3 dieser VO erhielt § 253 RStGB nun folgende, dem heutigen Leser durchaus vertraute Fassung:
(1) Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, wird wegen Erpressung mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft.
(2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht.
24
In der Sache stellt der Entwurf also eine punitive Mischung aus den Ansätzen des E 1933 und des E 1936 dar. Auffällig ist die für das nationalsozialistische Strafrecht typische Bezugnahme auf das „gesunde Volksempfinden“ in Absatz 2. Eine randscharfe Abgrenzung von strafbarem und nicht strafbarem Verhalten war vom Verordnungsgeber nicht beabsichtigt, die offene Rechtswidrigkeitsklausel des Absatzes 2 schuf vielmehr die Möglichkeit, die Strafnorm „flexibel“ zu handhaben. Andererseits wurde der Vollendungszeitpunkt nach hinten verschoben: Verlangt wurde nunmehr der tatsächliche Eintritt eines Vermögensschadens des Genötigten oder eines Dritten, sodass ein Gleichlauf mit dem Betrug hergestellt werden konnte. Andererseits wurde die in § 254 RGStB a.F. noch enthaltene Qualifikation der „schweren Erpressung“ durch die Strafrechtsangleichungsverordnung gestrichen.
6. Die Erpressung in der Nachkriegszeit
25
Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden durch das Kontrollratsgesetz Nr. 1 bestimmte nationalsozialistische Strafgesetze aufgehoben. Die durch die Strafrechtsangleichungsverordnung von 1943 getroffenen Regelungen blieben jedoch in Kraft. Allerdings verbot die Kontrollratsproklamation Nr. 3 Ziff. II. 2 die Strafbegründung mit dem Verweis auf das „gesunde Volksempfinden“. In der Nachkriegszeit stellte sich daher bald die Frage, ob Verurteilungen auf den Tatbestand des § 253 RStGB in der Fassung von 1943 gestützt werden konnten, oder ob die Strafvorschrift durch die Gesetzgebung des Alliierten Kontrollrats (insgesamt) aufgehoben worden war. Ein Teil der Rechtsprechung nahm an, dass § 253 RStGB n.F. (bzw. der insoweit inhaltsgleiche § 240 RStGB n.F.) unwirksam seien, weil sie untrennbar mit typisch nationalsozialistischer Strafrechtssetzung verbunden waren.[39] Demgegenüber ging die überwiegende Anzahl der mit der Frage befassten Gerichte davon aus, dass die §§ 240, 253 RStGB n.F. zwar möglicherweise eine nationalsozialistische Diktion verwendeten, aber ihrer Weitergeltung keine durchgreifenden Bedenken entgegenstünden.[40] Eine vermittelnde Ansicht ging von der grundlegenden Fortgeltung der §§ 240 Abs. 1, 253 Abs. 1 RStGB aus, wollte aber den Absatz 2 jeweils unangewendet lassen bzw. durch das Merkmal der „guten Sitten“ oder durch eine allgemeine Rechtswidrigkeitsprüfung ersetzen.[41]
26
Der BGH schloss sich dann der Ansicht derjenigen Obergerichte an, die eine unbeschränkte Fortgeltung des reformierten Erpressungstatbestandes befürworteten. Die Kontrollratsproklamation verbiete insoweit nur eine nationalsozialistische Interpretation des „gesunden Volksempfindens“, es sei dem Richter aber nicht verwehrt, bei der Einschränkung des Tatbestandes das Rechtsempfinden des Volkes zu berücksichtigen.[42] Durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953[43] wurde die sprachlich anstößige Formulierung des § 253 Abs. 2 StGB, den die Norm durch die Reform von 1943 erhalten hatte, dann aber endgültig beseitigt und der Tatbestand erhielt im Wesentlichen die heutige Fassung. Großen Einfluss auf die Erpressungsstrafbarkeit hatte in der Folgezeit dann insbesondere die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, nach der Streiks im Rahmen des Tarifvertragsrechts als rechtmäßig anzusehen waren.[44] Die Erpressung hatte damit ihre Funktion als Instrument zur Bekämpfung von Arbeitsniederlegungen eingebüßt. Zeitgleich