Handbuch des Strafrechts. Dennis Bock
die im sog. E 1962 gipfelten. Für das Recht der Erpressung sah der E 1962 aber keine grundlegende Umgestaltung vor.
27
Die früher in § 253 Abs. 1 S. 2 StGB vorgesehene Strafschärfung für (unbenannte) besonders schwere Fälle wurde durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 mit Regelbeispielen in Absatz 4 überführt.[45] Seit 1998 wird die genötigte Person nicht mehr als „anderer“, sondern als „Mensch“ bezeichnet.[46]
II. Kriminologische Bedeutung und Erscheinungsformen der Erpressung[47]
28
Kennzeichnend für die Erpressung ist stets die zwingende Mitwirkung des Erpressungsopfers bei der Tat. Denn um den Taterfolg herbeizuführen, „muss“ (jedenfalls nach der hier vertretenen Ansicht[48]) das Opfer selbst die Vermögensverfügung vornehmen, also an der Tat mitwirken, und kann sich auf diese Weise „frei kaufen“.[49] Diese Mitwirkung ist dogmatisch mit der Rechtsfigur der notwendigen Teilnahme zu bewältigen. Dennoch steht man bei der Erpressung vor der Situation, dass die Vollendung der Straftat nur deshalb möglich ist, weil sich die potenziellen Opfer „unsolidarisch“ bzw. „egoistisch“ verhalten. Wäre klar, dass sich künftig niemand mehr einer Erpressung beugen würde, würde diese Kriminalitätsform rasch aussterben.[50] Auch Fälle des erpresserischen Menschenraubes blieben folgenlos und würden in der Folgezeit aufhören, wenn niemand die Opfer freikaufen würde. Weil eine konsequente Opfersolidarität dem betroffenen Individuum jedoch kaum zumutbar ist (und das einzelne Opfer zudem auf die Solidarität der anderen Opfer nicht ernsthaft vertrauen kann), lässt sich diese Einsicht praktisch nur bei einigen besonderen Opfern (Verkehrsbetriebe, Lebensmittelindustrie etc.) umsetzen. Dies gilt insbesondere auch für den Staat,[51] der sich – im Gegensatz zu Privatpersonen – nicht erpressen lassen „darf“.
29
Die Skala erpresserischer Verhaltensweisen reicht von fast noch sozialadäquatem, im Geschäftsleben üblichem und erlaubtem Druck bis hinein in die Schwerstkriminalität (Kindesentführung, Menschenraub). Diese Breite liegt an der besonderen Rechtsgutskombination, die sich dadurch auszeichnet, dass der Erpresser mit seiner Tathandlung zwar auf das Vermögen zielt, der erpresserische Angriff sich aber zugleich auf andere Rechtsgüter richtet (bis hin zum Angriff auf das Leben).[52] Bei der räuberischen Erpressung, § 255 StGB, besteht kriminologisch bzw. kriminalpolitisch kein Unterschied mehr zum Raub. Die besonders schweren Formen der Erpressung, nämlich der erpresserische Menschenraub und die Geiselnahme (§§ 239a, 239b StGB), sind zwar in der Praxis selten, nehmen aber kontinuierlich zu: Im Jahr 1975 gab es 34, im Jahr 1985 dagegen insgesamt 66 Verurteilte (jeweils alte Bundesländer). Diese Zahl wuchs in den Folgejahren weiter: Im Jahr 2005 gab es 171 und im Jahr 2011 insgesamt 186 Verurteilte.[53] In den letzten Jahren ist jedoch ein leichter Rückgang festzustellen. Die Zahl der Verurteilungen für das Jahr 2013 sank auf 146[54] und für das Jahr 2016 auf 104[55] Verurteilungen, im Jahr 2018 gab es gar nur 89[56] Verurteilungen. Dabei handelte es sich stets um spektakuläre, die Öffentlichkeit erregende und das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung besonders beeinträchtigende Straftaten. Sie eignen sich daher besonders gut zur Ausbeutung durch sensationelle Berichterstattung, die nicht immer auf das Leben eines entführten Kindes oder einer Geisel Rücksicht nimmt.[57]
30
Was die einfache Erpressung, § 253 StGB, betrifft, fällt sie nach der Verurteilungsstatistik zahlenmäßig ebenfalls kaum ins Gewicht und belief sich im Schnitt etwa auf 600 Verurteilungen im Jahr.[58] Insgesamt wurden regelmäßig recht niedrige Strafen ausgesprochen. Höher sind die Verurteiltenzahlen hingegen bei der räuberischen Erpressung (im Jahr 2018 gab es hier 2246 Verurteilungen und im Jahr 2016 2393 Verurteilte).[59] Was ihre Rolle in der Wirklichkeit angeht, wird in der kriminologischen Literatur allerdings darauf hingewiesen,[60] dass man eine grobe Unterteilung in eine – zahlenmäßig bis zum Beginn der 1990er-Jahre im Vordergrund stehende – Schweigegelderpressung (Chantage) und eine Bedrohungserpressung (ausbeuterische Erpressung)[61] vornehmen kann. Verstöße des Erpressungsopfers, insbesondere gegen die herrschende Sexual- und Steuermoral, machen das Opfer insbesondere für eine Schweigegelderpressung anfällig. Dabei ist allerdings eine geringe Anzeigebereitschaft zu vermuten – und damit eine hohe Dunkelziffer. Die Bedrohungserpressung dürfte dagegen häufiger angezeigt werden, wenn man von der Zuhälterei als einem alten Prototyp der modernen Schutzgelderpressung absieht. Weil es der Polizei in aller Regel gelingt, den Erpresser in diesen Fällen zu überführen, ist die Bedrohung sicherer durch die Anzeige des Erpressers als durch die Erfüllung der erpresserischen Forderungen abzuwenden. Auffallend ist aber dennoch der kontinuierliche Anstieg der (einfachen) Erpressungen,[62] welcher in der polizeilichen Kriminalstatistik bis etwa ins Jahr 2000 sichtbar wird (1980 = 3154 Fälle; 1990 = 2680 Fälle; 1992 = 3956 Fälle; 1994 = 5679 Fälle; 1996 = 6791 Fälle; 1998 = 7026 Fälle). Der Trend nahm dann zwischendurch wieder etwas ab (2004 = 6127 Fälle; 2005 = 5862 Fälle; 2006 = 5838 Fälle; 2008 = 5185; 2010 = 5528 Fälle).[63] Im Jahre 2011 ist die Zahl jedoch wieder auf 7149 gestiegen.[64] Dieser Trend setzte sich auch in den folgenden Jahren fort. Im Jahr 2012 stieg die Zahl auf 9920 und für das Jahr 2013 wurden 12 496 Fälle erfasst,[65] im Jahr 2015 sogar 24 971 Fälle.[66] Im Jahre 2016 hingegen waren es wiederum nur 7826,[67] im Jahr 2017 insgesamt 7434[68] und im Jahr 2018 wieder 10 759 Fälle.[69] Auffallend niedrig ist, wie erwähnt, aber die Zahl der Verurteilten, steht doch mit der Anzeige, also in fast allen Fällen, die polizeilich bekannt werden, ein Tatverdächtiger fest.[70] Der Versuchsanteil liegt bei den polizeilich bekannt gewordenen Erpressungen weit über 50 % (im Jahre 2013 standen der Verurteilung von 181 vollendeten Taten insgesamt 352 Versuchstaten gegenüber,[71] im Jahre 2016 wurden 144 vollendete und 455 versuchte Taten[72] und im Jahr 2018 insgesamt 132 vollendete und 461 versuchte Taten ausgewiesen[73]). An sich wäre sogar ein noch höherer Versuchsanteil plausibel, dürfte eine Anzeige doch eher statt als nach einer Zahlung an den Erpresser erfolgen. War die Aufklärungsquote im Jahr 2010 mit 82,1 % noch sehr hoch,[74] verschlechterte sie sich rapide auf nur noch 42,4 % im Jahr 2013.[75] Vom Täterkreis her fällt die überdurchschnittliche Zahl von jugendlichen oder heranwachsenden Tätern auf. Für die räuberische Erpressung stellt diese Tätergruppe, mit leichten Schwankungen in den letzten Jahren, zwischen 50 % und 60 % aller Abgeurteilten dar, im Bereich der einfachen Erpressung hingegen lediglich zwischen 20 % und 30 %.[76]
8. Abschnitt: Schutz des Vermögens › § 32 Erpressung und räuberische Erpressung › C. Hauptteil
I. Grundstrukturen der Erpressungstatbestände
31
Das Bemerkenswerte am Erpressungstatbestand ist, dass auch mehr als siebzig Jahre nach dem Inkrafttreten der gegenwärtigen Fassung der Erpressung (1943) und mehr als hundertsechzig Jahre nach dem Erlass der Vorgängervorschrift (1851) in Lehre und Rechtsprechung keine Einigkeit über seine tatbestandliche Struktur besteht. Im Wesentlichen dreht sich der Streit um die Frage, welche Funktion die Erpressungstatbestände im Rahmen der übrigen Eigentums- und Vermögensdelikte einnehmen und wie sie gegenüber diesen, insbesondere zum Raub, abzugrenzen sind. Zwar ist es unstreitig, dass es sich beim Grundtatbestand der Erpressung im Kern um ein Vermögensdelikt handelt,[77] welches auf eine Vermögensverschiebung gerichtet ist. Umstritten ist jedoch, ob es sich dabei um ein Selbstschädigungsdelikt handelt, welches voraussetzt, dass das genötigte Opfer eine (mehr oder weniger freiwillige) Vermögensverfügung vornimmt, oder ob auch Fälle der vis absoluta, z.B. in Form der Wegnahme von Vermögensgegenständen erfasst sind. Auf der Grundlage der zuletzt genannten Ansicht ergäben sich insbesondere Überschneidungen zum Raub, die in der Forderung gipfeln, die Erpressung als Grundtatbestand des Raubes anzusehen.[78]
32
Der Grundtatbestand der