Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
der seine Rechtfertigung letztlich aus der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der historischen Vorgänge schöpft. Das Bundesverfassungsgericht hat das Verfahren mit sachlich durchaus fragwürdigem Hinweis auf Art. 23 Satz 2 a.F. GG in Verbindung mit dem Wiedervereinigungsgebot der Präambel a.F. als Grundlage dieses Vorgehens und die Qualifizierung der Grundgesetz-Änderungen als „beitrittsbedingt“ bzw. „beitrittsbezogen“ gebilligt.[225] Der Bezug zur Wiedervereinigung ist zwar bei der Aufhebung von Art. 23 a.F. GG sowie der Änderung von Präambel und Art. 146 GG ersichtlich gegeben, lässt sich aber bei anderen der durch den EV vorgenommenen Verfassungsänderungen wie etwa bei Art. 51 Abs. 2 GG mit Fug und Recht bezweifeln.
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Als verfassungsrechtlich wie außenpolitisch bedeutsamstes Ergebnis der deutschen Wiedervereinigung bleibt festzuhalten, dass die deutsche Frage nun nicht mehr offen ist.[226] Mit der mehrfachen Änderung der Präambel[227] im Zusammenhang mit der Streichung von Art. 23 a.F. GG ist klargestellt, dass sich das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland in dem der aufgezählten 16 Bundesländer erschöpft. Die Herstellung der deutschen Einheit ist also nicht in den Grenzen von 1937 erfolgt, und Deutschland stellt keine weitergehenden Gebietsansprüche unter Berufung auf das Wiedervereinigungsgebot. Andere Teile Deutschlands i.S.d. Art. 23 a.F. GG gibt es nicht mehr.[228] Diese vor allem für die anderen europäischen Staaten und auch die USA wichtige Feststellung wurde durch die flankierende völkerrechtliche Regelung im „Zwei-Plus-Vier-Vertrag“ abgesichert.[229]
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Gleichwohl ist das Grundgesetz noch immer das von 1949. Einen neuen Akt der Verfassunggebung hat es im Zuge der deutschen Wiedervereinigung nicht gegeben. Das zu betonen besteht Veranlassung, weil die Denkschrift der Bundesregierung zum Einigungsvertrag[230] sowie manche Äußerungen in der Literatur ein solches Verständnis befördern könnten.[231] Auch in den besonderen Formen und Begleiterscheinungen der Wiedervereinigung kann kein formaler Akt der Verfassunggebung gesehen werden. Die Menschen in der ehemaligen DDR haben das Grundgesetz angenommen, nicht geschaffen. Das Grundgesetz ist also durch die Wiedervereinigung nicht neu kreiert, sondern in seinem räumlichen Geltungsbereich erweitert und zugleich durch den Einigungsvertrag verändert worden.[232] Es ist aber nach wie vor das Grundgesetz vom 23. Mai 1949.
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Andererseits bleibt ebenso unzweideutig festzuhalten, dass Art. 146 GG das Tor zu einer neuen, vom gesamten deutschen Volk beschlossenen Verfassung weiterhin offenhält. Das Grundgesetz hat legitime und gesamtdeutsche Geltung, ohne aber als definitive, endgültige und auf legalem Wege nicht mehr zu beseitigende Verfassung gelten zu können. Vielfältige Versuche, die Schlussbestimmung des Grundgesetzes zu marginalisieren oder für gänzlich unbeachtlich zu erklären,[233] finden im Normtext ebenso wenig eine tragfähige Grundlage wie in systematischer oder teleologischer Interpretation oder den Beratungen zur Veränderung der Norm, die im Übrigen nur in der Einfügung eines Relativsatzes bestand.[234] Nach richtigem Verständnis perpetuiert Art. 146 n.F. GG den Ablösungsvorbehalt und eröffnet somit weiterhin die zeitlich nicht begrenzte Möglichkeit, das Grundgesetz durch eine in freier Entscheidung des deutschen Volkes beschlossene Verfassung zu ersetzen.[235]
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In Art. 5 des Einigungsvertrages war im Übrigen empfohlen worden, die Notwendigkeit künftiger Verfassungsänderungen zu prüfen. Die daraufhin Ende 1991 eingesetzte 32köpfige Gemeinsame Verfassungskommission (GVK) bestand je zur Hälfte aus Vertretern von Bundestag und Bundesrat,[236] womit die Aufgabe in die Hände aktiver Parteipolitiker gelegt war. Außerdem bedurfte es für die Vorschläge einer Zweidrittelmehrheit. Entsprechend „mager“[237] und ganz überwiegend auf das Bund-Länder-Verhältnis konzentriert fielen die Ergebnisse aus, wie sie sich in der folgenden formellen Verfassungsänderung niederschlugen.[238] Da von machten lediglich Art. 3 Abs. 2 Satz 2 (Verfassungsauftrag zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau), 3 Abs. 3 Satz 2 (Benachteiligungsverbot für Behinderte) und 20a GG (Staatsziel Umweltschutz) eine Ausnahme.
e) Verfassungstranszendierung: Europäische Integration als Entwicklungsfaktor und neuer Sinnhorizont
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Durch die Verfassungsänderungen im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung war u.a. Art. 23 GG aufgehoben worden. Es ist ein Vorgang von hoher Sinnfälligkeit, wenn nur zwei Jahre später der frühere Wiedervereinigungsartikel zum Europaartikel wurde.[239] Art. 23 n.F. GG regelt nunmehr in partiell überdetaillierter Weise Grund und Grenzen des europäischen Integrationsprozesses. Ergänzt und insbesondere den unionsrechtlichen Gegebenheiten angepasst wurden auch Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG (Kommunalwahlrecht für EU-Ausländer) und Art. 88 (Europäische Zentralbank); im Bereich der Staatsorganisation ist auf die Einfügung von Art. 45 (Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union) und Art. 52 Abs. 3a GG (Europakammer des Bundesrates) hinzuweisen.
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Die hierin sichtbar werdende fortschreitende Europäisierung des Grundgesetzes, zu der noch vielfältige Phänomene der Überlagerung und stillschweigenden Deutungsveränderung der grundgesetzlichen Normen ohne Textänderung hinzutreten,[240] markiert sicher den gewichtigsten und in seiner ganzen Tiefe noch immer nicht voll ausgeloteten Vorgang sukzessiver Transzendierung des nationalen Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Der Integrationsprozess war lange Zeit inkremental verlaufen und ließ die hohe Bedeutung für die Mitgliedstaaten und ihre Verfassungen nicht erkennen; möglicherweise wurde der grundstürzend neue Charakter auch durch die völkerrechtliche Fundierung der Genese und der Fortentwicklung der Gemeinschaft abgedunkelt. Doch spätestens seit dem Vertrag von Maastricht 1992 ist die heute gegebene intensive Verklammerung der nationalen Rechtsordnung mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht Gegenstand anhaltender und kontroverser Debatten. Unbestreitbar ist das Grundgesetz stärker denn je „eingebettet“ in die gesamteuropäische Verfassungsentwicklung.[241] Und mehr noch: dadurch, dass es Raum lässt für höherrangige öffentliche Gewalt in Gestalt der Europäischen Gemeinschaft, weist es gleichsam „über sich selbst hinaus“[242]. Man kann es paradox auch so formulieren, dass das Grundgesetz mittlerweile eine „europäische“ Verfassung ist.[243]
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Ein supra- wie internationaler Bezug zugleich kennzeichnet die im Jahre 2000 erfolgte Änderung des Art. 16 GG.[244] In Abweichung vom bis dahin strikt geltenden Verbot der Auslieferung Deutscher an das Ausland kann nunmehr bei Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze eine andere Regelung getroffen werden.[245] Das vom Deutschen Bundestag verabschiedete und einen einschlägigen Rahmenbeschluss des europäischen Rates umsetzende „Europäische Haftbefehlsgesetz“ wurde allerdings vom Bundesverfassungsgericht in vollem Umfang für nichtig erklärt.[246]
f) Jüngere Entwicklungen im Grundrechtsbereich
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Abgesehen von der Änderung des Art. 10 GG im Zuge der Notstandsgesetzgebung (vgl. oben, Rn. 54) hat es im Grundrechtsabschnitt lange Zeit zwar Klarstellungen und Erweiterungen, aber kaum deutlich sichtbare Restriktionen gegeben. Das änderte sich in den 1990er Jahren.
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Produkt langer und zäher parteipolitischer Kontroversen war zunächst der „Asylkompromiss“[247] zwischen CDU/CSU, SPD und FDP, der in das 39. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes mündete.[248] Der vor dem Hintergrund exorbitant gestiegener Asylbewerberzahlen bei gleichbleibend niedriger Anerkennungsquote und entsprechend intensiven Debatten gefundene Kompromiss bestand darin, dass in Art. 16a Abs. 1 GG das Individualgrundrecht auf Asyl weiterhin gewährt, in den folgenden Absätzen aber umfangreichen Einschränkungen unterworfen wurde.[249] Argumentationen, wonach damit die unantastbare Menschenwürde oder andere kraft der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG absolut geschützte Rechtsgüter verletzt würden,[250] hat das Bundesverfassungsgericht