Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
umschriebenen, weit über Art. 91a, b GG hinausreichenden intensiven Formen der Zusammenarbeit im Bund-Länder- sowie im Zwischenländerbereich[350] sind in aller Regel Domäne der Verwaltung, vor allem der Ministerialbürokratien, weniger der parlamentarischen Vertretungen. Auch nach der Entflechtung im Bund-Länder-Verhältnis durch die Förderalismus-Reform vom Sommer 2006 (vgl. oben, Rn. 83) werden auf weiten Gebieten staatlichen Wirkens Kooperationsformen der genannten Art anzutreffen sein.
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Der Exekutivföderalismus findet schließlich eine weitere Realisierung in Gestalt des Bundesrates, in dem weder volksgewählte Abgeordnete der Länder wie nach dem amerikanischen Senatsmodell (vgl. oben, Rn. 38) noch von den Landesparlamenten entsandte Vertreter sitzen. Art. 51 GG bestimmt vielmehr, dass der Bundesrat aus Mitgliedern der Landesregierungen besteht, wobei in Abhängigkeit von der Einwohnerzahl ein Land über mindestens drei und höchstens sechs Stimmen verfügt.
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Eine besondere Prägung erfährt der bundesdeutsche Föderalismus (und stärker wohl noch die bundesdeutsche Bundesstaatstheorie) durch die „Bundestreue“[351]. Nach überwiegender, wenn auch nicht unumstrittener Meinung auf den allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben gegründet, verpflichtet die Bundestreue den Bund und die Länder wechselseitig sowie die Länder untereinander, bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen „die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der Länder zu nehmen“[352]. Angesichts des vergleichsweise hohen Detaillierungsgrades der den Bundesstaat betreffenden Normierungen kommt der Grundsatz der Bundestreue nur subsidiär zur Geltung. Ihn hat das Bundesverfassungsgericht durchaus des Öfteren herangezogen, doch wurde wegen der gebotenen Zurückhaltung bei der Anwendung bislang nur in ganz wenigen Fällen eine Verletzung der Bundestreue konstatiert.[353]
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › III. Grundzüge des Grundgesetzes › 3. Demokratieprinzip
a) Demokratie (Art. 20 Abs. 1 GG)
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Der Demokratiebegriff ist durch seine notorische Unschärfe und interdisziplinäre Vieldeutigkeit gekennzeichnet. Gleichwohl lassen sich schon Art. 20 Abs. 1 GG, wonach die Bundesrepublik Deutschland ein „demokratischer“ Bundesstaat ist, einige zentrale Aussagen und normative Fixierungen entnehmen.[354] Für Demokratie als Volksherrschaft ist danach zunächst tragend die „Idee der freien Selbstbestimmung aller Bürger“[355], wobei damit zugleich ihr egalitärer Grundzug betont ist. Doch weder durch den Freiheits- noch durch den Gleichheitsbezug verliert Demokratie ihren Herrschaftscharakter. Sie zielt nicht auf Negierung oder Aufhebung staatlicher Herrschaft, sondern auf eine (besonders anspruchsvolle) Organisation derselben.[356]
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Von entsprechenden Strukturelementen demokratischer Herrschaft lässt sich angesichts des Umstandes, dass Einstimmigkeit in sozialen Großverbänden entweder Illusion oder diktatorische Fassade ist, zunächst die Geltung des Mehrheitsprinzips benennen,[357] dessen Rechtfertigung letztlich im Gedanken der Revisibilität einmal getroffener Entscheidungen liegt und das um einen adäquaten Schutz parlamentarischer wie struktureller Minderheiten zu ergänzen ist.[358] Sodann meint demokratische Herrschaft immer „Herrschaft auf Zeit“[359], bedarf also namentlich in Gestalt regelmäßiger Neuwahlen der kontinuierlichen Erneuerung ihrer Legitimation. Aus der Verknüpfung von Mehrheitsprinzip mit der Machtwechselchance lässt sich zudem eine verfassungsmäßige Fundierung der Opposition[360] ableiten, die freilich im Grundgesetz – im Unterschied zu vielen Landesverfassungen – eher als Funktion, nicht als Institution angelegt ist.
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Demokratie als „Verfahren der Legitimation, der Kontrolle und der Kritik politischer Herrschaft“[361] setzt einen prinzipiell offenen Kommunikations- und Willensbildungsprozess voraus, der den Entscheidungen etwa bei Parlamentswahlen vorausgehen, sie aber darüber hinaus insgesamt übergreifen und begleiten muss. Denn auch eine rein repräsentativ ausgestaltete Demokratie erschöpft sich nicht in der Stimmabgabe bei Wahlen, bei der die Willensbildung sich von unten nach oben zu vollziehen hat.[362] Hinzu kommt in Gestalt eines permanenten Rückkoppelungsprozesses zwischen Wählern und Gewählten „die Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen Meinungsbildung“[363] durch die Bürger. Wesentliche Grundlage für pluralistische Vielfalt und Gegensätzlichkeit, für Kritik und Kommunikation in diesem Sinne bilden die Grundrechte als „Infrastruktur aller demokratischen Prozesse“[364]. Insbesondere die Meinungsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten Lüth-Urteil als für die Demokratie „schlechthin konstituierend“ bezeichnet.[365] Das unterstreicht die demokratische Funktion der Grundrechte und ihre Bedeutung für die Gewährleistung einer pluralen Öffentlichkeit.
b) Volkssouveränität, Wahlen, Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2 GG)
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Der Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) bringt das tradierte Prinzip der Volkssouveränität zum Ausdruck.[366] Deren höchste Ausdrucksform, die verfassunggebende Gewalt, ist freilich nicht hier, sondern in der Präambel und in Art. 146 GG verortet. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG thematisiert das Volk als Verfassungsorgan, nicht als Schöpfer der Verfassung. Doch wird neben dem Akt der Verfassunggebung auch die Ausübung der Staatsgewalt an den Willen des Volkes rückgebunden und so dem Gedanken der Volkssouveränität in doppelter Weise Rechnung getragen.[367]
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Bei dieser Rückbindung handelt es sich nicht um eine Zuständigkeitsregelung, sondern um ein Legitimations- und Verantwortungsprinzip. Der Satz will also nicht der Illusion Vorschub leisten, das Volk müsste und könnte selbst alle verbindlichen staatlichen Entscheidungen treffen. Gefordert ist vielmehr deren prinzipielle Rückführbarkeit auf den Willen des Volkes. Ausgeschlossen sind damit alle gewissermaßen selbsttragenden Legitimationsvorstellungen transzendentaler, traditionaler, elitärer oder charismatischer Provenienz. Demokratie anerkennt „keine nicht auf das Volk rückführbare und von ihm zumindest mittelbar legitimierte staatliche Macht als gerechtfertigte Autorität“[368].
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Unter der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG angesprochenen Staatsgewalt sind alle Arten ihrer Ausübung zu verstehen: die Summe der legislativen, exekutiven und judikativen Funktionen der Staatsorgane und Amtswalter auf allen Ebenen von Bund, Ländern und Gemeinden unter Einschluss der verselbständigten juristischen Personen des öffentlichen Rechts.[369] Auch das privatrechtsförmige Handeln des Staates bildet keine Generalausnahme.
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Mit „Volk“ ist in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG das deutsche Staatsvolk als Summe der Staatsangehörigen gemeint,[370] nicht die wechselhafte Summe der von der Staatsgewalt irgendwie „Betroffenen“[371] oder aller im Staatsgebiet sich aufhaltenden Personen. Für diese Deutung spricht neben verfassungshistorischen wie -vergleichenden Betrachtungen vor allem der systematische Zusammenhang mit Präambel, Art. 146 GG sowie anderen Vorschriften des Grundgesetzes, in denen ausdrücklich vom deutschen Volk die Rede ist. Wie Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG (vgl. oben, Rn. 64) zeigt, schließt das ein Kommunalwahlrecht für EU-Ausländer nicht aus.
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Nähere Ausgestaltung erfährt die Volkssouveränitätsdoktrin durch Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, indem dort die beiden unmittelbaren Ausübungsformen staatlicher Gewalt durch das Volk (Wahlen und Abstimmungen) unterschieden