Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
Nun war einiges an Bedeutungszuwachs zweifellos im Grundgesetz selbst angelegt: so etwa die in Art. 1 Abs. 3 GG klar ausgesprochene Grundrechtsbindung für alle drei Staatsgewalten einschließlich des parlamentarischen Gesetzgebers (vgl. oben, Rn. 12, 86), verknüpft mit einer unmissverständlichen Einordnung als subjektive, unmittelbar einklagbare Rechte; oder die Bestimmung des Art. 19 Abs. 2 GG, wonach Eingriffe in Grundrechte deren Wesensgehalt nicht antasten dürfen (vgl. oben, Rn. 130). Doch über diese keineswegs gering zu schätzenden Aspekte ging die weitere Entwicklung ganz beträchtlich hinaus. Sie lässt sich mit der hier unvermeidlichen Vergröberung als eine Entwicklung der Extensivierung, der Intensivierung und der Entfaltung neuer Dimensionen der Grundrechte i. S. einer Pluralisierung umschreiben.
a) Extensivierung
135
Eine denkbar weitgehende Extensivierung erfolgte zunächst durch die Ausdehnung grundrechtlicher Schutzbereiche ins nahezu Unbegrenzte, wie sie sich mit dem Elfes-Urteil[448] vollzog. Dessen zentrale grundrechtsdogmatische Weichenstellung bestand darin, das in Art. 2 Abs. 1 GG garantierte Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit als ein allgemeines Freiheitsrecht zu verstehen, das damit zum umfassenden Auffanggrundrecht wurde. Fällt demnach eine bestimmte Betätigung nicht unter eines der kasuistisch aufgeführten Grundrechte, bleibt immer noch die Berufung auf Art. 2 Abs. 1 GG.[449] Auch banal anmutende Tätigkeiten oder alltägliche Verhaltensweisen genießen Grundrechtsschutz; letztlich ist keine Handlung zu gering oder zu belanglos, um als grundrechtsirrelevant ausgeschieden zu werden. Die Judikatur selbst bietet für diese Ausdehnung auf Betätigungen jeder Art und Güte plastische Beispiele: das Verbot des Fütterns von Tauben im Park, des Reitens im Walde oder des Mopedfahrens ohne Helm[450] – all diese vergleichsweise marginalen Einschränkungen können nun als Grundrechtseingriffe gewertet und wegen der Einräumung der Verfassungsbeschwerdemöglichkeit einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterzogen werden.[451] Der Grundrechtsschutz wird lückenlos und flächendeckend.[452] Zwar sieht die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG weitergehende Restriktionsmöglichkeiten vor als zahlreiche andere Grundrechtsbestimmungen; da aber auch hier das mehrstufige Verhältnismäßigkeitsprinzip greift, fällt das Ergebnis der Prüfung oft nicht zwingend anders aus. Eine gewisse dogmatische Verselbständigung haben einige der unter Art. 2 Abs. 1 GG fallenden Handlungsfreiheiten in den so genannten Innominatsfreiheitsrechten (wie der Freiheit von Abgaben oder vom Verbandszwang, der Ausreisefreiheit oder der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit) gefunden.
136
Eine zumeist mit Art. 2 Abs. 1 GG verbundene Extensivierung besteht des Weiteren in der Kreation „neuer“ Grundrechte, als deren wichtigstes das richterrechtlich entwickelte „allgemeine Persönlichkeitsrecht“ gelten darf. Es wird vom Bundesverfassungsgericht in st. Rspr. aus „Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG“ hergeleitet und stellt neben der allgemeinen Handlungsfreiheit eine zweite, unabhängige Garantie dar.[453] Zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht zählen etwa das Recht am eigenen Bild und am eigenen Wort, der Schutz des Namens und der Ehre sowie die sexuelle Selbstbestimmung. Ein besonders prominentes und folgenreiches Beispiel bildet insofern das Volkszählungsurteil mit der Schöpfung eines „Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“, das dem Datenschutz eine grundrechtliche Basis verleiht.[454] Es illustriert im Übrigen eindringlich, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht als ein besonders flexibles Instrument fungiert, neuen Gefährdungsquellen grundrechtlicher Freiheit zu begegnen.[455]
137
Es rundet diesen Aspekt der Extensivierung ab, wenn auch die Garantien der anderen Grundrechte prinzipiell entwicklungsoffen gedeutet und vor allem der jeweilige Schutzbereich zumeist weit und ohne vorschnelle Reduktion auf bestimmte Gewährleistungsgehalte gelesen wird.[456] So fällt etwa die Pornographie nicht von vornherein aus der Kunstfreiheit heraus;[457] das Mietrecht kann verfassungsrechtlich als Form des Eigentums gelten;[458] selbst evident törichte oder rein polemische Aussagen werden von der Meinungsfreiheit geschützt;[459] auch die Rumpf- oder Patchworkfamilie fällt unter den Familienbegriff[460] – um nur einige wenige Beispiele für diese Form offener Grundrechtsinterpretation[461] zu nennen, die sich freilich nur auf die Weite des Schutzbereiches bezieht und über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Einschränkungen und damit für die letztlich garantierte „Nettofreiheit“[462] noch nichts Endgültiges aussagt.
138
Eine Extensivierung anderer Art bedeutete die Aufgabe einer aus der konstitutionellen Epoche übernommenen und lange ungebrochen fortgesetzten Judikatur zu den früher „besondere Gewaltverhältnisse“ genannten, heute häufig als „Sonderstatusverhältnisse“ apostrophierten staatsnahen Konstellationen (Schulen, Strafanstalten, Beamtenverhältnisse), in denen man die Geltung der Grundrechte als ausgeschlossen betrachtete. Solche grundrechtsexemten Sphären beseitigte der Strafgefangenen-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts.[463] Unmittelbare Konsequenz dieser Nicht-Exklusionsmöglichkeit war die später mit Hilfe der Wesentlichkeitsdoktrin (vgl. oben, Rn. 123) auch in anderen Bereichen forcierte Geltung des Gesetzesvorbehalts (etwa für die Ordnung des Strafvollzugs oder die Gestaltung der Schulpläne).
b) Intensivierung
139
Mit der weiten Interpretation der grundrechtlichen Tatbestände sowie der Auffangmöglichkeit durch Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) geraten zwar alle denkbaren Freiheitsbetätigungen in den Einzugsbereich grundrechtlichen Schutzes. Über die verfassungsrechtliche Rechtfertigung staatlicher Eingriffe, also von deren Zulässigkeit, ist damit allerdings noch nichts Endgültiges ausgesagt. Denn darüber entscheidet erst die folgende Prüfung, ob der Eingriff in die grundrechtliche Freiheitssphäre verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, also mit den formellen und materiellen Schranken der Verfassung in Einklang steht.[464] Für die hohe Intensität, mit der die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs kontrolliert wird, spielt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. oben, Rn. 130ff.) eine herausragende Rolle, weil er mit seinen drei Prüfstufen alle Grundrechtseingriffe (sei es durch den Normgeber, sei es durch die administrative oder judikative Einzelentscheidung) unter einen erhöhten Legitimationsdruck stellt und insbesondere „den zur Grundrechtseinschränkung ermächtigten Gesetzgeber nochmals an das eingeschränkte Grundrecht“ zurückbindet.[465] Freilich lauern hier insbesondere bei der Abwägung konkurrierender Rechtsgüter auf der dritten Stufe auch bestimmte Gefahren einer zu weitgehenden gerichtlichen Kontrolle legislativer oder exekutiver Handlungsmacht.
c) Pluralisierung
140
Der wichtigste und in seinen Konkretisierungen sicher noch nicht abgeschlossene Änderungsprozess betrifft den Wandel der Grundrechtsfunktionen oder -dimensionen, der als bedeutsamste Form eines Verfassungswandels (dazu oben, Rn. 47) unter dem Grundgesetz gelten darf und gar als „spektakulärste Neuerung des deutschen Staatsrechts nach 1945“[466] bewertet worden ist. Diese neuen Dimensionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl über den Staatsbezug als auch über die Abwehrstoßrichtung hinausgehen. Man kann darunter all jene Fallkonstellationen fassen, in denen Grundrechte nicht als liberale Abwehrrechte des Einzelnen gegen die Staatsgewalt mobilisiert werden, sondern sich auf andere Art und Weise realisieren: in Dritt- und Ausstrahlungswirkung, als Organisations- und Verfahrensgarantien, als Leistungs- und Teilhabegehalte, als Schutzpflichten und Einrichtungsgarantien.[467] So hat man etwa, um ein Beispiel zu nennen, Grundrechte bei der Gestaltung eines staatlichen Zwangsversteigerungsverfahrens dahingehend