Manche Phänomene einer Verfassungszentrierung gehen darüber freilich noch hinaus. So hat ein ebenso scharfsichtiger wie scharfzüngiger Beobachter in einem Überblick über die Rechtsentwicklung der ersten vier Nachkriegsjahrzehnte eine „quasireligiöse Aufwertung der Verfassung“[515] diagnostiziert. In der Tat gibt es Anzeichen und im Grundgesetz selbst liegende Gründe dafür, dass es „in der geistigen Welt der Legalität [...] eine Art von säkularem Ewigkeitscharakter“[516] zu gewinnen scheint; auch lässt sich anhand des politischen Diskurses beobachten, dass das Grundgesetz oft als eine Art „Moralsubstitut“[517] fungiert. Und schließlich sei daran erinnert, dass nicht nur die Feierstunden zu den 30er, 40er oder 50er Jubiläen des Grundgesetzes zuweilen durch einen pastoral hochgestimmten Ton geprägt waren, sondern selbst die massiv antiklerikalen Protagonisten der Französischen Revolution vor mehr als 200 Jahren auf Anleihen aus dem religiösen Bildprogramm der großen monotheistischen Religionen für die Präsentation der Menschenrechtserklärung nicht verzichten mochten und sich an Moses’ Gesetzestafeln orientierten.[518]
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Gegenüber derartigen Sakralisierungstendenzen bleibt nüchtern festzuhalten, dass die Verfassung als rechtliche Grundordnung des politischen Gemeinwesens Menschenwerk und als solches fehlbar und vergänglich ist. Sie kann gerechte politische wie gesellschaftliche Verhältnisse anstreben und Vorkehrungen für deren Realisierung treffen, muss dabei aber stets die pluralistische Vielfalt der Auffassungen und Werthaltungen der Bürger in Rechnung stellen, auf deren Annahme und Akzeptanz sie mehr als auf alles andere angewiesen ist. Ohnehin kann die Verfassung immer nur vorletzte Fragen regeln, entscheiden oder einer (temporären) Lösung zuführen. Für die letzten Fragen nach dem guten, gelingenden Leben und seinem Sinn hat jeder, um Max Webers dramatische Wendung zu gebrauchen,[519] seinem eigenen Dämon zu folgen.[520]
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