Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
Grundlage als das erste. Zudem handele es sich bei der Berufung um ein „zweischneidiges Schwert“ (v. Bülow), das eben auch der Staatsanwaltschaft die Macht gebe, Freisprüche aufzuheben.[163] Tatsächlich war es die Möglichkeit, missliebige Urteile zu korrigieren, die das Institut schließlich für die preußische Regierung interessant machte und selbst Bismarck in das Lager der Berufungsbefürworter übertreten ließ.[164]
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Gegenüber der Berufungsfrage trat der alte Streit über das Schwurgericht in den Hintergrund. In der Wissenschaft war die Vorherrschaft der Schwurgerichtsanhänger seit den 1880er Jahren gebrochen. Eine neue Wissenschaftlergeneration bedachte das Institut nicht mit vormärzlicher Empathie, sondern mit beißendem Spott: Schwurgerichte erschienen als „öde Mißgeburt der französischen Revolutionsgesetzgebung“, die Geschworenen als „Sonntagsrichter“, ihre Urteile als „Orakelsprüche“.[165] Ungeachtet derlei Rhetorik fand ein reines Laiengericht noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts prominente Unterstützer, wobei etwa v. Liszt juristische Mängel zugestand, zugleich aber auf freiheitliche Traditionen verwies.[166] Jenseits der großen rechtspolitischen Streitfragen fand die Diskussion über die „Reform des reformierten Strafprozesses“ und die Beseitigung inquisitorischer Verfahrenselemente ihre Fortsetzung. In der Tradition zu liberalen Autoren der 1850/60er Jahre wurde weiterhin für die Reform des Vorverfahrens, die Stärkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und die Einführung adversatorischer Verfahrenselemente gestritten.[167]
III. Änderungsgesetze
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Im Gegensatz zur heutigen gesetzgeberischen Volatilität blieb der Normbestand der RStPO während des Kaiserreichs nahezu unverändert. Während eines Zeitraums von 40 Jahren wurden lediglich sechs Paragraphen modifiziert.[168] Größere Bedeutung erlangten lediglich zwei Änderungen. Mit dem Abstellen auf den Erscheinungsort einer Druckschrift als regelmäßigem Gerichtsstand erfüllte der Gesetzgeber zu Beginn des neuen Jahrhunderts eine alte liberale Forderung (§ 7 Abs. 2 RStPO).[169] Außerdem kam es 1917 kriegsbedingt zu einer zeitlich begrenzten, moderaten Ausdehnung des Strafbefehlsverfahrens (§ 197a RStPO) sowie – auf Antrag der Staatsanwaltschaft – zu Zuständigkeitserweiterungen für Schöffengerichte. Nebengesetzliche Regelung erfuhren die Gewährung von Entschädigung für unschuldig Verurteilte (1898) und für unschuldig erlittene Untersuchungshaft (1904).[170]
IV. Entwürfe und Scheitern der Reform – Chronologie
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Im Kaiserreich scheiterten alle legislatorischen Versuche einer umfassenden Neugestaltung des Strafprozessrechts. Dennoch legten die Entwürfe und deren fachwissenschaftliche Diskussion die Grundlage für die während der Weimarer Zeit durchgesetzten Reformen. Chronologisch zusammengefasst stellen sich die Reformversuche wie folgt dar:[171]
– | Erste Vorstöße im Reichstag (1883/1884/1885) Mehrfache Anträge von Abgeordneten des Zentrums und der Freisinnigen Partei auf Einführung der Berufung gegen Strafkammerurteile blieben erfolglos.[172] |
– | Regierungsentwurf (Mai 1885)[173] Das im Reichstag eingebrachte „Gesetz, betreffend Aenderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung“ entzog dem Schwurgericht die Zuständigkeit über verschiedene Delikte und reduzierte die Anzahl der Geschworenen auf sieben. Vorgesehen waren zudem die Einführung des Nacheides sowie die Ausdehnung des Kontumazialverfahrens gegen ferngebliebene Angeklagte. Keine Mehrheit unter den Regierungsvertretern hatte die von Preußen beabsichtigte Einführung der Berufung gegen erstinstanzliche Strafkammerurteile gefunden. Bismarcks Intention war es gewesen, über das Berufungsrecht der Staatsanwaltschaft eine Handhabe gegen Freisprüche und milde Urteile zu bekommen.[174] Aufgrund des Endes der Session fand eine Reichstagsberatung über den Regierungsentwurf nicht statt. |
– | Bundesratsentwurf (1894) [175] Der dem Reichstag vom Bundesrat übermittelte Entwurf, der maßgeblich auf Vorarbeiten im preußischen Justizministerium zurückging, brachte mit der intendierten Einführung der Berufung gegen Strafkammerurteile eine Wende. Die Strafkammern sollten im Gegenzug mit lediglich drei Berufsrichtern besetzt werden (statt bisher fünf)[176]. Als Berufungsinstanz war das OLG vorgesehen. Geplant waren außerdem der Ausbau des abgekürzten Verfahrens, die Streichung von § 23 Abs. 3 RStPO, die Ausdehnung des Kontumazialverfahrens, die Einführung des Nacheides sowie Zuständigkeitsverschiebungen zugunsten der Schöffengerichte und Strafkammern. Für rechtspolitischen Zündstoff sorgte die Einschränkung der gerichtlichen Selbstverwaltung. Aufgrund des Endes der Session fand abermals keine Erörterung im Reichstag statt. |
– | Bundesratsentwurf (1895) [177] Der zwischenzeitlich leicht modifizierte Gesetzesentwurf von 1894 wurde erneut in den Reichstag eingebracht. Der Bundesratsentwurf scheiterte, weil der Reichstag an einer Besetzung der Strafkammern mit fünf Berufsrichtern festhielt.[178] Die Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz sollte nicht durch rechtsstaatliche Einbußen auf erstinstanzlicher Ebene erkauft werden. |
– | Einsetzung und Beschlüsse der Strafprozesskommission (1903–1905) Der Anstoß für die Wiederaufnahme der Reformarbeiten kam von Reichskanzler v. Bülow.[179] Das Reichsjustizamt setzte eine aus 21 Mitgliedern bestehende unabhängige Kommission ein.[180] Das unter beruflichen und landsmannschaftlichen Proporzerwägungen zusammengestellte Gremium wurde anhand eines umfassenden Fragenkatalogs mit der gutachterlichen Äußerung beauftragt. Nach zweijährigen Beratungen lagen die Beschlüsse und Verhandlungsprotokolle vor.[181] Vorgesehen war die Beseitigung des Schwurgerichts und dessen Umwandlung in ein großes Schöffengericht (drei Berufsrichter, sechs Schöffen). Schöffengerichte (drei Berufsrichter, vier Schöffen) sollten zudem an die Stelle der berufsrichterlichen Strafkammern treten. Gegen erstinstanzliche Urteile war die Berufung statthaft. Zu den Beschlüssen zählten außerdem die Parteiöffentlichkeit der Voruntersuchung sowie partielle Durchbrechungen des Legalitätsprinzips. Auch votierte die Strafprozesskommission für einen erweiterten Anwendungsbereich des Kontumazialverfahrens und des Strafbefehlsverfahrens sowie für eine Ausdehnung der Privatklagedelikte. |
– | Entwurf einer Strafprozessordnung (Bundesratsvorlage, Juli 1908, erstellt im Reichsjustizamt)[182] Das Reichsjustizamt überarbeitete die Entwürfe der Strafprozesskommission unter Hinzuziehung der Ländervertreter.[183] Im Gegensatz zu den Kommissionsbeschlüssen hielt der Entwurf des Reichsjustizamts an Schwurgerichten fest. Gegen Urteile der mit Schöffen besetzten Strafkammern stand die Berufung zum LG offen. Als schicksalhaft für den weiteren Reformverlauf erwiesen sich die auf preußischen Druck ausschließlich berufsrichterlich besetzten sog. „Berufungssenate“. Die Letztentscheidung in politisch bedeutenden Verfahren sollte einem reinen Beamtengericht vorbehalten bleiben.[184] Wichtige Neuerungen betrafen die Ermächtigung zur Errichtung von Jugendgerichten sowie verschiedene Durchbrechungen des Legalitätsprinzips, u.a. die Formulierung eines allgemeinen Opportunitätsprinzips für geringfügige Straftaten (§ 154 Abs. 1 RStPO).[185] |
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Entwurf einer Strafprozessordnung (Reichstagsvorlage, November 1909, erstellt durch den Bundesrat)[186]
Der Bundesrat nahm an der Vorlage des Reichsjustizamts lediglich Randkorrekturen und sprachliche Modifikationen |