Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
Beschuldigten, sich in jedem Verfahrensstadium eines Verteidigers zu bedienen und mit diesem zu den Verhören zu erscheinen. Zudem gewährte § 8 braunschw.-StPO dem Verteidiger bereits im Vorverfahren das Akteneinsichtsrecht. Während die übrigen Verfahrensrechte dem Verdächtigen ausdrücklich oder stillschweigend die Pflicht zur wahrheitsgemäßen Antwort auferlegten, normierte § 43 braunschw.-StPO ein Schweigerecht. Der Untersuchungsrichter hatte den Verdächtigen ausdrücklich darüber zu belehren, dass er „zu keiner Antwort oder Erklärung auf die ihm vorgelegten Fragen gehalten sei“. Die Vornahme der Belehrung war im Protokoll zu vermerken und vom Untersuchungsrichter, Protokollführer und Beschuldigten zu unterschreiben. Erklärtes Ziel war es, einer Geständniserlangung durch unlautere Methoden vorzubeugen und auf diese Weise das Vertrauen in die Strafjustiz zu sichern.[30] In einem Gutachten, das die Reichsregierung im Zuge der anstehenden Rechtsvereinheitlichung angefordert hatte, resümierte das Herzogliche Obergericht zu Wolfenbüttel ebenso apodiktisch wie folgenlos: „Der Unbefangene wird gestehen, dass jede andere Procedur den Namen eines richterlichen Verfahrens nicht verdient“[31]. Die Bestimmungen der braunschweigischen Strafprozessordnung fanden keine Aufnahme in die RStPO, bis heute stellen sie ein nicht in vollem Umfange erfülltes rechtspolitisches Desiderat dar.
I. Übersicht
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Mit der Einführung des öffentlich-mündlichen Anklageprozesses war die Diskussion über eine grundlegende Reform des Strafverfahrens nicht beendet.[32] Aus Sicht maßgeblicher Autoren blieben die nach 1848 eingeleiteten Reformen unvollendet. Kritiker sahen in dem neuen Verfahren einen bloßen „Inquisitionsprozeß mit Anklageform“, der lediglich den alten „Untersuchungsprozess mit accusatorischen Beigaben verkörpere“[33]. Der Blick richtete sich zunehmend auf das anglo-amerikanische Verfahrensrecht.[34] Das kontradiktorische Verfahrensmodell lieferte Argumente für „die folgerichtige Durchführung des öffentlich-mündlichen Anklageprocesses“[35]. Autoren wie Carl Ludwig v. Bar (1836–1913), Julius Glaser (1831–1885), Rudolf v. Gneist (1816–1895), Carl Joseph Anton Mittermaier (1787–1867) und Heinrich Albert Zachariae (1806–1875) zeigten in den Jahrzehnten zwischen der Revolution von 1848 und der Gründung des Deutschen Kaiserreichs mit aller Deutlichkeit die Gebrechen auf, an denen der deutsche Strafprozess bis heute laboriert. Zu den zentralen Themen, welche die kriminalpolitische Diskussion vor der Reichsgründung bestimmen sollten, zählten die Neugestaltung des weiterhin inquisitorisch geführten Vorverfahrens (Rn. 10), die Reform der Hautverhandlung (Rn. 11.), die Stellung der Staatsanwaltschaft (Rn. 12 f.) sowie die Funktion und Form der Laienbeteiligung (Rn. 14 f.).
II. Vorverfahren
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Die Kritik liberaler Prozessualisten entzündete sich an der Ausgestaltung des Vorverfahrens, in der v. Gneist „die alte Inquisition auf unveränderter, unhaltbarer Grundlage“ wiederzuerkennen glaubte.[36] Nicht allein der mittelbare Geständniszwang war den Reformern suspekt,[37] auch die konsequente Umsetzung der neuen Verfahrensprinzipien schien gefährdet. So unterlaufe das inquisitorische Vorverfahren die proklamierte Mündlichkeit der Hauptverhandlung, weil der Vorsitzende Kenntnis der Untersuchungsakten erhalte.[38] Der Akteninhalt werde gewissermaßen aus den Angeklagten und Zeugen „herausexaminiert“.[39] Das Verhör des Präsidenten werde, so Mittermaier, zu einer „Suggestion der in der Voruntersuchung gegebenen Antworten“[40]. Als Remedur forderten manche Autoren, das Vorverfahren kontradiktorisch, öffentlich und mündlich auszugestalten.[41] Schreckte man vor einem derartigen Traditionsbruch zurück, zielten die Forderungen auf eine Stärkung der Verteidigungsrechte im Ermittlungsverfahren.[42] Ergänzend plädierten manche für die ausdrückliche Normierung eines Schweigerechts.[43] Nicht auf der Reformagenda stand hingegen die Aufnahme von Belehrungspflichten. Vereinzelte Rufe, wonach dem Angeklagten zumindest in der Hauptverhandlung zu eröffnen sei, dass er „zu einer Beantwortung an ihn gerichteter Fragen nicht verpflichtet (sei)“, verhallten ungehört.[44]
III. Hauptverhandlung
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Kritik entzündete sich an der Stellung des Gerichtspräsidenten, dem die neuen Prozessgesetze die Verhandlungsleitung, das Verhör der Angeklagten und der Zeugen, die Zusammenfassung der Beweisaufnahme, die Formulierung der Fragen an die Geschworenen sowie, gemeinsam mit den übrigen Berufsrichtern, die Strafzumessung aufbürdeten.[45] Zahlreiche Autoren forderten die Ersetzung der richterlichen Vernehmung durch ein kontradiktorisches Verfahren.[46] Nach neuem Recht stehe der Gerichtspräsident nicht über den Parteien, wie es dem Wesen und der Würde des Richteramtes entspräche, sondern er trete als ein „coram publico verhandelnder Inquirent“[47], als ein „zweiter Ankläger“[48], in Erscheinung. Im Vergleich zum gemeinrechtlichen Verfahren schien sich die Situation für den Angeklagten sogar verschlechtert zu haben, weil „der Inquirent in das erkennende Gericht selbst aufgenommen“ worden war.[49] Für die Beseitigung des richterlichen Zeugenverhörs ließ sich weiter anführen, dass ein Kreuzverhör nach englischem Vorbild sicherer in der Lage sei, die Wahrheit an den Tag zu bringen.[50]Als nicht mehrheitsfähig erwiesen sich hingegen Überlegungen, den Richter von jeglicher inquirierender Tätigkeit freizustellen und ihm die richterliche Vernehmung des Angeklagten gänzlich zu entziehen. Der Juristentag von 1873 brachte das fortlebende, dem inquisitorischen Verfahrensmodell verhaftete Richterbild zum Ausdruck, indem er feststellte: „es sei und bleibe das sittliche officium des Richters, den Angeklagten zum Bekenntnis seiner Schuld zu bringen, ihm Gelegenheit zu geben, durch reumüthiges Bekenntnis seinen Frieden zu machen mit seinem Gotte“[51].
IV. Staatsanwaltschaft
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Die Doppelfunktion der Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsorgan und zur Objektivität verpflichteter „Wächter der Gesetze“ brachte die Preußische Verordnung vom 3. Januar 1849 exemplarisch zum Ausdruck: Staatsanwälte hatten einerseits „bei Verbrechen die Ermittlung der Thäter herbeizuführen und dieselben vor Gericht zu verfolgen“, andererseits „darüber zu wachen, dass bei dem Strafverfahren den gesetzlichen Vorschriften überall genügt werde“ und „nicht blos darauf zu achten, dass kein Schuldiger der Strafe entgehe, sondern auch darauf, dass Niemand schuldlos verfolgt werde“[52]. Preußische Staatsanwälte genossen keine richterliche Inamovibilität und konnten als „politische Beamte“ jederzeit ihrer Aufgaben entbunden oder in den Ruhestand versetzt werden.[53] Hinsichtlich der Kompetenzzuweisung wiesen die Partikulargesetze eine beträchtliche Variationsbreite auf.[54] Entgegen dem richtungweisenden preußischen Modell kannten Bayern, Hannover und Braunschweig staatsanwaltliche Mitwirkungsbefugnisse innerhalb der Zivilgerichtsbarkeit. Eine Abweichung von der streng hierarchischen Gliederung fand sich allein in Braunschweig, wo der einzelne Staatsanwalt gegen seine Überzeugung weder zu Untersuchungshandlungen noch zur Anklageerhebung angehalten werden durfte.[55] Die Durchführung einer gerichtlichen Voruntersuchung blieb bei schwerwiegenden Delikten obligatorisch, der Staatsanwaltschaft verblieben lediglich Aufsichts- und Antragsrechte. Während Untersuchungsrichter in Bayern auch von Amts wegen Ermittlungen aufnahmen, besaßen preußische Staatsanwaltschaften das uneingeschränkte Anklagemonopol. Rechtsmittel gegen untätige Staatsanwaltschaften standen in Preußen nicht zur Verfügung, während andere Staaten Vorformen eines Klageerzwingungsverfahrens kannten.[56]
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Das Reformschrifttum monierte erneut die unzureichende Verwirklichung des Anklagegrundsatzes. Um eine schädliche „Zwitterstellung“ zu vermeiden, müsse die Staatsanwaltschaft als Partei begriffen werden, wobei im Hauptverfahren „Waffengleichheit“