Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
sowie die Weisungsbefugnis des Justizministeriums aufzuheben.[59] Zu den Kernforderungen liberaler Kritiker zählte indes die Durchbrechung des staatsanwaltschaftlichen Anklagemonopols zugunsten einer subsidiären Privatklage des Verletzten oder der allgemeinen subsidiären Popularklage.[60] Strafverfolgung dürfe, insbesondere in politischen Fällen, nicht von der Initiative eines weisungsabhängigen Beamten abhängen.
V. Schwur- und Schöffengerichte
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Nahezu ausnahmslos hatten die deutschen Partikularstaaten gemeinsam mit dem öffentlich-mündlichen Strafprozess das Schwurgericht eingeführt. Die sachliche Zuständigkeit der Laiengerichte erstreckte sich auf die Aburteilung schwerer Delikte, worunter nach preußischer Gesetzgebung solche Verbrechen fielen, „welche in den Gesetzen mit einer härteren als dreijährigen Freiheitsstrafe bedroht sind“[61]. Zwölf Geschworenen oblag es, nach ihrer „freien aus dem Inbegriffe der vor (ihnen) erfolgten Verhandlungen geschöpften gewissenhaften Überzeugung“ über das Schicksal des Angeklagten zu entscheiden.[62] Mit Beginn der Restauration geriet das Schwurgericht in die Defensive. Österreich und Sachsen schafften es bereits 1853 bzw. 1855 ab, andere Staaten beseitigten seine Zuständigkeit für Pressevergehen und politische Delikte, einschließlich der im Vereins- und Versammlungsrecht enthaltenen Strafandrohungen.[63] Schon bald meldeten sich Stimmen zu Wort, die eine deutliche Abkühlung der Schwurgerichtsbegeisterung konstatierten oder das Institut als gefährliches „Vehikel der Demokratie“ denunzierten.[64] Ungeachtet aller Einwände bemühten sich die Befürworter, rechtssystematische Vorzüge zu belegen. Nur das Schwurgericht stehe, so Mittermaier, „in dem folgerichtigen Zusammenhang mit den Grundsätzen des neuen Strafverfahrens“[65]. Glaser sekundierte, wer ein „wahrhaft mündliches Verfahren und freie Beweiswürdigung will, der wird immer wieder dahin gelangen, in dem Geschworenengericht die bewährteste Form zu erkennen“[66]. Weil Berufsrichter Kenntnis der Untersuchungsakten besäßen, bestünde stets die Gefahr der Voreingenommenheit; es sei unmöglich, gegen eine vor der Verhandlung gewonnene Überzeugung anzukämpfen.[67]
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Die größte Gefahr drohte den Schwurgerichten durch das Aufkommen der Schöffengerichte. Die Besetzung der Richterbank mit Laien und Berufsrichtern schien der Weg zu sein, um den festgefahrenen Streit über die Vorzugswürdigkeit von Laien- oder Berufsrichtern zu überwinden. Seit 1850 etablierte eine Reihe deutscher Staaten, beginnend mit Hannover, „gemischte Gerichte“ zur Aburteilung von Kleinkriminalität. Weitergehend erstreckten Sachsen, Württemberg und Hamburg die Kompetenz des Schöffengerichts auf mittlere Kriminalität.[68] Auf positive Erfahrungen verweisend, wurde der Ruf nach Ersetzung der Schwurgerichte durch Schöffengerichte laut. Maßgeblichen Einfluss erlangten die Schriften des als „Vater der Schöffengerichte“[69] apostrophierten sächsischen Oberstaatsanwalts und Strafrechtsreformers Friedrich Oskar v. Schwarze (1816–1886).[70] Schwurgerichtsanhänger wandten ein, dass nicht ein vermeintliches „organisches Zusammenwirken“ die Arbeit des Schöffengerichts präge, sondern „Scheincollegialität“[71]. Die Berufsrichter gerieten aufgrund ihrer Aktenkenntnis und Eloquenz unweigerlich in Versuchung, Laien in die gewünschte Richtung zu lenken.[72]
1. Verfassungsrechtliche Grundlagen – Reichstagsinitiative
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Am 18. April 1868 nahm der Reichstag des Norddeutschen Bundes den Antrag der Abgeordneten Planck und Wagner an, „der Reichstag wolle beschließen, den Bundeskanzler aufzufordern: Entwürfe eines gemeinsamen Strafprocesses, sowie die dadurch bedingten Vorschriften der Gerichts-Organisation, baldthunlichst vorbereiten und dem Reichstage vorlegen zu lassen“[73]. Die Grundlage der nationalen Rechtsvereinheitlichung bildete Art. 4 Nr. 13 der Verfassung des Norddeutschen Bundes.[74] Ziel der liberalen Reichstagsmehrheit war es, das tradierte Recht über den Weg der Rechtsvereinheitlichung grundlegend zu reformieren.[75] Der Bundesrat, zusammengesetzt aus den Bevollmächtigten der norddeutschen Staaten und der drei Freien Städte, stimmte zu. Priorität besaß zunächst die Ausarbeitung eines neuen Strafgesetzbuchs, erst im Anschluss sollte die Verfahrensvereinheitlichung in Angriff genommen werden. Nachdem bereits im Juli 1869 der „Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund“ (sog. „Entwurf Friedberg“) vorlag, war der Weg frei für die Schaffung einer Reichsstrafprozessordung.[76]
2. „Entwurf Friedberg“
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Bundeskanzler Bismarck schlug den gleichen Weg ein wie ein Jahr zuvor für das materielle Strafrecht, indem er den preußischen Justizminister Adolph Leonhardt (1815–1880) ersuchte, „die Ausarbeitung des Entwurfs auch zu diesem Gesetze gefälligst veranlassen zu wollen“[77]. Leonhardt betraute mit den Arbeiten abermals den bewährten und belastbaren Geheimen Oberjustizrat Heinrich v. Friedberg (1813–1895), dem er als „Hilfsarbeiter“ den Appellationsgerichtsrat Ewald Löwe (1837–1896), den späteren Begründer des führenden Kommentars zur RStPO, sowie zwei weitere Praktiker zur Seite stellte.[78] Während für die Vereinheitlichung des materiellen Rechts auf das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten (1851) zurückgegriffen werden konnte, stand Friedberg für das Strafverfahrensrecht vor einer ungleich komplexeren Aufgabe. Angesichts der eingangs aufgezeigten partikularrechtlichen und innerpreußischen Rechtszersplitterung konnte den Arbeiten keine der vorhandenen Verfahrensordnungen zugrunde gelegt werden. Hinzu kam, dass grundlegende prozessuale und gerichtsorganisatorische Fragen im Zentrum erbitterter rechtspolitischer Kontroversen standen (z.B. Schwurgerichte, Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft, Berufung). Trotz der schwierigen Ausgangssituation gelang es Friedberg und seinen Mitarbeitern schon im November 1870, den ersten Entwurf einer nationalen Strafprozessordnung vorzulegen.
3. Chronologie
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Friedbergs seinerzeit unveröffentlichter „Entwurf einer Strafprozeß-Ordnung für den Norddeutschen Bund“ bildete den Auftakt zu einem mehrjährigen Gesetzgebungsverfahren.[79] Es galt, wie bereits für das am 1. Januar 1871 in Kraft getretene norddeutsche Strafgesetzbuch, die Interessen der Einzelstaaten, der Hegemonialmacht Preußen sowie der liberalen Reichstagsmehrheit in Ausgleich zu bringen. Chronologisch zusammengefasst stellt sich der Weg zur strafprozessualen Rechtseinheit wie folgt dar:[80]
– | Entwurf einer Deutschen Strafprozeß-Ordnung („Erster Entwurf“, Januar 1873)[81] Nach Einholung vertraulicher Gutachten preußischer Juristen wurde der „Entwurf Friedberg“ im preußischen Justizministerium überarbeitet und mit umfangreichen Motiven sowie sechs Anlagen gedruckt.[82] Rechtspolitischen Zündstoff barg der Entwurf insofern, als er das Schwurgericht beseitigte (anders der „Entwurf Friedberg“), das Rechtsmittel der Berufung verwarf sowie das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft für zahlreiche Delikte durch die Gewährung der subsidiären Privatklage durchbrach. Als Kompensation für die Abschaffung des Schwurgerichts war die Stärkung des Laienelements durch erstinstanzlich urteilende kleine, mittlere bzw. große Schöffengerichte vorgesehen. |
– | Entwurf einer Deutschen Strafprozeßordnung („Revidierter Entwurf“, Juli 1873)[83] Der „revidierte Entwurf“ ist das Ergebnis einer mit elf hochrangigen Juristen besetzten Kommission, die der Bundesrat gleichsam „als rechtsgelehrte Sachverständige“[84] zur Beratung des „Ersten Entwurfs“ eingesetzt hatte.[85] Die vorgenommenen Änderungen beschränkten sich freilich vorwiegend auf redaktionelle und sprachliche Verbesserungen. |
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