Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
Prüfung und eingehende Darlegung der maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen in der Anordnung, die dem Betroffenen die Inanspruchnahme von Rechtsschutz ermöglicht.[156] Schon Fehler geringeren Gewichts können dann zur Unverhältnismäßigkeit der Sicherungsmaßnahme führen; jedoch kann auch ein weniger umfassender Zugriff auf das Vermögen am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit scheitern, wenn die Eingriffsvoraussetzungen in besonders drastischer Weise missachtet worden sind.[157]
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Das BVerfG hat weiter hervorgehoben, dass mit der den Eingriff in die Eigentumsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 GG intensivierenden Fortdauer der Maßnahme auch die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung der Anspruchssicherung steigen.[158] Diese Betonung der zeitlichen Dimension des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hat noch einmal an Bedeutung gewonnen, nachdem der Gesetzgeber mit dem bereits erwähnten Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung die zuvor in § 111b Abs. 3 StPO a.F. enthaltene zeitliche Begrenzung des dinglichen Arrestes (nunmehr: Vermögensarrest zur Sicherung der Wertersatzeinziehung, § 111e StPO) ersatzlos gestrichen hat.[159] Waren an den verfahrensgegenständlichen Taten mehrere Personen beteiligt oder wurden die Taten zugunsten eines Dritten begangen, so ist schließlich stets sorgfältig zu prüfen, ob derjenige, bei dem eine strafprozessuale Sicherstellungsmaßnahme nach §§ 111b ff. StPO vorgenommen werden soll, den vermuteten Taterlös auch tatsächlich i.S.d. § 73 Abs. 1 StGB „erlangt“ hat.[160]
3. Auffanggrundrechte
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Als Auffanggrundrechte sorgen die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) auch im Strafverfahren für einen potentiell lückenlosen Grundrechtsschutz in den Fällen, in denen eine Maßnahme nicht den Schutzbereich eines konkreten Freiheitsrechtes tangiert.[161]
a) Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)
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Obwohl Art. 2 Abs. 1 GG die allgemeine Handlungsfreiheit nach der Rechtsprechung des BVerfG „im umfassenden Sinne“[162] schützt, sind Entscheidungen des Gerichts mit strafprozessualem Bezug, in denen dem Auffanggrundrecht[163] des Art. 2 Abs. 1 GG entscheidungserhebliche Bedeutung zukommt, eher selten. In einem Kammerbeschluss wurde eine Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit darin gesehen, dass das Revisionsgericht das Rechtsmittel gegen eine strafrechtliche Verurteilung verworfen hatte, obwohl zwischenzeitlich die einschlägige Strafvorschrift außer Kraft getreten war.[164] Im Übrigen wird aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) beispielsweise der Grundsatz des fairen Verfahrens abgeleitet,[165] auf den weiter unten näher eingegangen werden soll (vgl. Rn. 41 ff.).
b) Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)
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Aus dem Zusammenwirken von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG leitet die höchstrichterliche Rechtsprechung das allgemeine Persönlichkeitsrecht ab, das der Sicherung personaler Autonomie i.S. e. „Integritätsschutzes“ dient.[166] Da der in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten Menschenwürdegarantie in diesem Zusammenhang lediglich die Funktion einer „Leit- und Auslegungsrichtlinie“[167] zukommt, sind Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht prinzipiell ausgeschlossen; sie unterliegen jedoch mit zunehmender Nähe zu dem durch Art. 1 Abs. 1 GG absolut geschützten Bereich gesteigerten Rechtfertigungsanforderungen.[168] Dieser gestufte Grundrechtsschutz findet seinen Ausdruck in der vom BVerfG entwickelten Sphärentheorie,[169] nach welcher der durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelte Schutz in konzentrischen Kreisen um einen „Innenraum“[170] angelegt ist: Das Gericht unterscheidet zunächst zwischen einem dem Zugriff der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogenen Kernbereich privater Lebensgestaltung (der Intimsphäre)[171] und der Privatsphäre, die anders als der Kernbereich einen Sozialbezug aufweist und daher grundsätzlich zum Gegenstand staatlicher Ausforschungsmaßnahmen gemacht werden darf. Eingriffe in die Privatsphäre werden jedoch nur bei strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für zulässig erachtet und bedürfen regelmäßig der Rechtfertigung durch Gemeinwohlbelange, welche das Geheimhaltungsinteresse überwiegen.[172] Die geringsten Rechtfertigungsanforderungen gelten schließlich für die der Privatsphäre vorgelagerte Sozialsphäre, in der bereits zweifelhaft sein kann, ob überhaupt der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts tangiert ist.[173]
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Bereichsspezifische Konkretisierungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bilden das bereits im Zusammenhang mit dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) behandelte Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (vgl. Rn. 23)[174] sowie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, welches die Befugnis des Einzelnen gewährleistet, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte und insbesondere personenbezogene Daten offenbart werden.[175] Einschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung kommen nur im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in Betracht und dürfen nicht weiter gehen, als es zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist.[176]
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Es liegt auf der Hand, dass dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und seinen bereichsspezifischen Konkretisierungen im Strafverfahren, das sich durch vielfältige Eingriffe in die Persönlichkeitssphäre des Beschuldigten auszeichnet, erhebliche praktische Bedeutung zukommt. So hat der Zweite Senat des BVerfG in seiner grundlegenden Entscheidung aus dem Jahr 1989 die Verwertung tagebuchähnlicher Notizen eines wegen Frauenmordes Beschuldigten über seine seelischen Spannungszustände und Schwierigkeiten mit Frauen an Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gemessen.[177] Nach Ansicht des Senates gebietet es die Verfassung nicht, Tagebücher oder ähnliche private Aufzeichnungen schlechthin von der Verwertung im Strafverfahren auszunehmen; eine Zuordnung zum unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung scheide insbesondere bei Angaben über die Planung bevorstehender oder Berichte über begangene Straftaten aus.[178] Über die Verwertbarkeit nicht zum absolut geschützten Kernbereich gehöriger Aufzeichnungen sei im Wege einer Interessenabwägung zu entscheiden, die vorliegend nach Ansicht der die Entscheidung tragenden Senatsmitglieder[179] aufgrund des engen Bezugs der Aufzeichnungen zur verfahrensgegenständlichen Straftat, die überdies schwer wiege, zugunsten der Verwertung ausfiel.[180] Der Erste Senat des BVerfG hat die vorstehend skizzierten Leitlinien in seiner Entscheidung zum großen Lauschangriff aus dem Jahr 2004 dahingehend präzisiert, dass „Aufzeichnungen oder Äußerungen im Zwiegespräch, die zum Beispiel ausschließlich innere Eindrücke und Gefühle wiedergeben und keine Hinweise auf konkrete Straftaten enthalten, [. . .] nicht schon dadurch einen Gemeinschaftsbezug (gewinnen), dass sie Ursachen oder Beweggründe eines strafbaren Verhaltens freizulegen vermögen“; etwas anderes gelte für „Äußerungen, die sich unmittelbar auf eine konkrete Straftat beziehen“.[181] Wenngleich damit einiges dafür spricht, dass der Senat die in der Tagebuch-Entscheidung des Ersten Senates verfahrensgegenständlichen Aufzeichnungen dem absolut geschützten Kernbereich zugeordnet hätte,[182] ist das Abgrenzungskriterium des Straftatbezuges auch in dieser präzisierten Fassung abzulehnen: Die Gleichsetzung von Straftatbezug und (eine Zuordnung zum Kernbereich hinderndem) Sozialbezug läuft auf eine gleichsam automatische Zulassung der Verwertung in Fällen mit hohem Verwertungsinteresse hinaus und hat daher eine weitgehende Entwertung des Kernbereichskonstrukts für das Strafverfahren zur Folge. Denkt man den Ansatz des BVerfG konsequent zu Ende, so müsste im Grunde jegliche Reflektion über Gegenstände mit unmittelbarem Gemeinschaftsbezug (also auch über solche ohne jede strafrechtliche Relevanz) vom Kernbereichsschutz ausgenommen werden, was die Möglichkeit zu staatlicher Einsichtnahme entzogener Selbstvergewisserung auf ein Minimum beschränken dürfte.[183] In einem gewissen Widerspruch zur Rechtsprechung auch des Ersten Senates stehen Entscheidungen des 2.