Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen. Matthias Jahn
Unterrichtung über die Rechtslage dennoch die richterliche Entscheidung, wird die Beschwerde in das Verfahrensregister übertragen und weiterbehandelt (§ 61 Abs. 2 GOBVerfG).
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Ist die Verfassungsbeschwerde ordnungsgemäß eingelegt, so erhält sie ein BvR-Aktenzeichen. Da dies schon die Vorprüfung durch den/die zuständige(n) Präsidialrat/-rätin (§ 60 Abs. 1 GOBVerfG) voraussetzt, können darüber bis zu zwei Wochen vergehen. Nach der Mitteilung des Aktenzeichens hört der Beschwerdeführer von der Sache in aller Regel für längere Zeit nichts mehr. Zutreffend lakonisch heißt es bei Zuck[35]: „Schriftwechsel ist unüblich. Wenn das Gericht etwas wissen will, fragt es danach.“ Die Kammer – in der Praxis also zunächst der zuständige Wissenschaftliche Mitarbeiter mit anschließender Vorlage an den Dezernenten und, im Falle der Zustimmung, Umlauf bei den beiden anderen Kammermitgliedern[36] – prüft nun die Annahmevoraussetzungen nach § 93a BVerfGG. Hieraus erwächst nicht nur eine der Tätigkeit in einem amtsrichterlichen Dezernat nahekommende Selbständigkeit in der Verwaltung des intern zugewiesenen Aktenbestandes, sondern durch die eigenständige Erstellung von Sachbericht und Votum in Verbindung mit der dem richterlichen Dezernenten zur Verfügung stehenden Jahresarbeitszeit ein ganz erheblicher Einfluss auf den Rechtsfindungsvorgang in Kammersachen.[37] In einem Zeitraum zwischen einigen Monaten und einigen Jahren ergeht dann eine Entscheidung, ob die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen wird.[38] Wird sie, die Statistik dementierend, zur Entscheidung angenommen, kann die Kammer der Verfassungsbeschwerde stattgeben, wenn sie offensichtlich begründet ist und das Gericht die maßgebliche Frage bereits entschieden hat. Hat die Kammer weder abgelehnt noch stattgegeben, so wird die Verfassungsbeschwerde zugestellt (§ 22 GOBVerfG) und der Senat entscheidet über die Annahme. Das Senatsverfahren dauert nun im Allgemeinen zwischen zwei und fünf Jahren.
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An dieser Ausgangslage orientiert, sollen im folgenden zweiten Teil[39] zunächst abstrakt die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde in Strafsachen erläutert werden. Der Rechtsanwalt, der von seinem Mandanten mit der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde beauftragt wurde, sollte sich so darüber klar werden, ob es überhaupt (ggf.: noch oder schon) Sinn macht, mit seinem Begehren vor das höchste deutsche Gericht zu ziehen. In einem dritten Teil[40] werden zum Abschluss die konkreten Anforderungen an das Verfassen einer Beschwerdeschrift und Einhaltung der Subsidiaritätsanforderungen behandelt. Die Ausführungen sollen als Hilfestellung dienen, aber auch daran erinnern, dass im Einzelfall durchaus eingehende Überlegungen zu der Frage angestellt werden sollten, ob der nicht auf Straf(prozess)verfassungsrecht spezialisierte Rechtsanwalt der ehrenvollen, aber schwierigen Aufgabe angesichts der nicht immer gastfreundlichen Karlsruher Spruchpraxis in jeder Hinsicht gewachsen ist.
Teil 1 Die Aufgaben des Strafverteidigers im Verfassungsbeschwerdeverfahren › B. Weitere verfahrensrelevante Gesichtspunkte › III. Rechtskraft eines Nichtannahmebeschlusses
III. Rechtskraft eines Nichtannahmebeschlusses
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Grundsätzlich ist ein Nichtannahmebeschluss nach § 93d Abs. 1 S. 2 BVerfGG nicht mehr anfechtbar.[41] Dies kann auch von – je nach Betrachterstandpunkt – besonders findigen oder hartnäckig querulatorischen Beschwerdeführern nicht dadurch umgangen werden, dass im Rahmen einer Gegenvorstellung die Verfassungswidrigkeit der § 93a ff. BVerfGG gerügt wird.[42] Von diesem Grundsatz macht das Gericht[43] allerdings dann eine höchst seltene Ausnahme, wenn der Nichtannahmebeschluss auf einem Fehler in der Sphäre des Gerichts beruht, etwa bei im Gericht außer Kontrolle geratenen Schriftstücken. Ist der Beschwerdeführer in Ansehung der Begründung des Nichtannahmebeschlusses sicher,[44] dass ein solcher Fall gegeben ist, kann ausnahmsweise eine Gegenvorstellung erhoben werden.
Anmerkungen
Umbach u. a. (Hrsg.), Das wahre Verfassungsrecht – zwischen Lust und Leistung –, GS Nagelmann, 1984. Siehe dazu Rossi DÖV 2016, 732; Zankl Irrwitziges aus der Wissenschaft, 2008, S. 225 ff.
Soeben Rn. 41.
Die Lehrbücher des Strafprozessrechts gehen daher auf die Verfassungsbeschwerde bestenfalls kursorisch ein, vgl. Beulke Strafprozessrecht, 13. Aufl. 2016, Rn. 506, 533; Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 3 Rn. 5; Hellmann Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 856; Kindhäuser Strafprozessrecht, 4. Aufl. 2016, § 3 Rn. 13 und Heghmanns Strafverfahren, 2014, Rn. 1239; anders allein Schroeder/Verrel Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2017, Rn. 324 f.
Barczak AL 2013, 314 (315); Lübbe-Wolff AnwBl. 2005, 509 (512); a.A. wohl B. Peters/Markus JuS 2013, 887 (890); Muckel JA 2010, 557.
So – aus rechtssoziologischer Perspektive – H. A. Hesse in: van Ooyen/Möllers, S. 137 (149).
Sauer AöR 138 (2013), 294.
Vgl. www.bundesverfassungsgericht.de/organisation. Eingehende (ältere) statistische Angaben und Auswertungen bei Blankenburg ZfRSoz 1998, 37; Jestaedt in: Jestaedt/Lepsius u.a., S. 77 (114 f.).
Dazu grundlegend Hömig FS Jaeger, 2011, S. 767 (768 ff.); C. Bäcker RW 2014, 482 f.; Scheffczyk in: Scheffczyk/Wolter , S. 63; Maatsch in: Emmenegger/Wiedmann, S. 31 (32 ff.); A. Schäfer Grundrechtsschutz im Annahmeverfahren, 2015, S. 14 ff.
Gesetzentwurf zum 5. BVerfGGÄndG, BT-Drucks.12/3628, S. 14. Grundsätzlich (mit zahlreichen statistischen Angaben) Kranenpohl Beratungsgeheimnis, S. 105 ff.; v. Bally Verfassungsbeschwerde und Annahmeverfahren, Diss. München 1972, S. 84 ff. (allerdings auf dem Rechtsstand des 4. BVerfGGÄndG 1970).
Die Geschäftsverteilung für das aktuelle Jahr und das letzte Jahrzehnt findet sich ebenfalls auf www.bundesverfassungsgericht.de/organisation.
Vgl. schon Schorkopf in: Ambos (Hrsg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 2011, S. 111. Es steht seit dem 20.7.2016 unter der Verantwortung von BVRin Kessal-Wulf, vgl. Jahn/Brodowski JZ 2016, 969 (971 Fn. 32).