Handbuch des Strafrechts. Jörg Eisele
Heimtückische Tötung unterläuft den Selbstschutz des Opfers in besonders perfider Weise. Denn um sein Leben zu schützen, nützt es nichts Warnungen zu befolgen und bestimmte durch äußere Gefährlichkeitsindizien hinreichend gekennzeichnete „no go areas“ zu meiden,[141] wo man sich „seines Lebens nicht sicher“ sein kann. Die heimtückische Tötung trifft das Opfer an einem Ort und zu einer Zeit, wo und wann mit einer solchen Attacke nicht gerechnet werden muss. Die Heimtücke unterminiert das gegenseitige Vertrauen, das Menschen in einer Gesellschaft brauchen, um halbwegs frei und unbefangen miteinander kommunizieren und sich aufeinander einlassen zu können. Hinreichende Gründe, der heimtückischen Tötung den Rang eines höchststrafwürdigen Verbrechens zuzuweisen, sind also durchaus vorhanden. Die Schwierigkeit bei der Anwendung einer Strafnorm mit diesem Merkmal besteht darin, Einzelfälle auszusondern, denen der Höchststrafwürdigkeitsgehalt fehlt.
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Das Gesetz definiert nicht, was unter „Heimtücke“ oder „heimtückisch“ zu verstehen ist. In Rechtsprechung und Schrifttum ist seit langem folgende Umschreibung anerkannt: Heimtückisch tötet, wer die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers zur Tötung ausnutzt.[142] Die Definition bildet zwar das Wesen der Heimtücke zutreffend ab und ist Rückgrat des Begriffs, für eine am Verhältnismäßigkeitsgebot orientierte Rechtsanwendung aber zu weit. Das zu erkennen hatte der BGH schon früh die Gelegenheit und fügte der Definition das einschränkende Element der „feindseligen Willensrichtung“ hinzu.[143] Vor allem Fälle der „Haustyrannentötung“ machen aber deutlich, dass auch mit dieser zusätzlichen Komponente der Heimtückedefinition immer noch Tötungen erfasst werden, die nicht höchststrafwürdig sind und deren Sanktionierung nach § 211 StGB unverhältnismäßig ist.[144] Restriktionsvorschläge der Literatur – insbesondere der „verwerfliche Vertrauensbruch“[145] – leiden an dem Dilemma, dass sie dem § 211 StGB Fälle entziehen, deren Mordqualität nicht zu bestreiten ist. Egal, wie man zu dem Mordmerkmal „Heimtücke“ steht: Der geltende § 211 StGB zwingt zu einem Kurs zwischen Scylla und Charybdis. Dem kann nur der Gesetzgeber abhelfen. Die Elemente „Arglosigkeit“, „Wehrlosigkeit“ und „Ausnutzen“ stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern zueinander in einer funktionalen Beziehung. Das Opfer ist wehrlos, weil es arglos ist, Wehrlosigkeit ohne Arglosigkeit oder nicht auf Arglosigkeit beruhende Wehrlosigkeit begründen also keine Heimtücke. Die Ausnutzung der Lage des Opfers äußert sich in der herabgesetzten Verteidigungsfähigkeit des Opfers und der dadurch bewirkten Erleichterung der erfolgreichen Tatbegehung. Arglos ist ein Opfer, das mit einem Angriff auf sein Leben nicht rechnet.[146] Kündigt der Täter dem Opfer an, dass er es sogleich töten werde, entfällt die Arglosigkeit. Daher ist für die Anwendung des § 211 StGB entscheidend, zu welchem Zeitpunkt die Arglosigkeit des Opfers bestehen muss, damit heimtückische Tötung gegeben ist. Grundsätzlich kommt es auf Arglosigkeit bei Versuchsbeginn (§ 22 StGB) an.[147] Hat das Opfer bereits zu diesem Zeitpunkt eine hinreichend konkrete Ahnung von der bevorstehenden Attacke, kann seine Tötung nicht heimtückisch sein. Ausnahmsweise soll ein Schwund der Arglosigkeit vor diesem Zeitpunkt unbeachtlich sein, wenn der Täter sein Opfer arglistig in eine Falle gelockt hat und ihm anschließend beim Beginn der unmittelbaren Tötungshandlung offen feindselig gegenüber tritt.[148] Als grobe Richtlinie ist das Abstellen auf den Beginn des Tötungsversuchs hilfreich. Eine sklavische Bindung an die Versuchsdogmatik kann hingegen keine Lösung sein, da die Vielgestaltigkeit von Versuchskonstellationen gepaart mit der Uneinheitlichkeit der Ansichten zum Versuchsbeginn in Literatur und Rechtsprechung zu vollkommen verfehlten Ergebnissen führen kann. Bei einem in mittelbarer Täterschaft begangenen Mord hinge die Erfüllung des Mordmerkmals Heimtücke gegebenenfalls davon ab, ob das unmittelbare Ansetzen an das zeitlich frühere Handeln des „Hintermannes“[149] oder das spätere Handeln des „Werkzeugs“[150] gekoppelt wird. Sieht das Opfer den vom mittelbaren Täter aufgehetzten geisteskranken Tatmittler schon von weitem mit einem Messer in der Hand anrücken, liegt nach der zum Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft vertretenen „Einzellösung“ Heimtücke vor, nach der „Gesamtlösung“ hingegen nicht. Es ist evident, dass in diesem Fall ein Opfer angegriffen wird, das nicht arglos ist und demzufolge auch nicht heimtückisch getötet wird, sollte es zur Tötung kommen. Diese Beurteilung kann aber nicht davon abhängig sein, welche Ansicht man im Streit um den Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft bevorzugt. Ebenso liegen die Dinge bei einer actio-libera-in-causa-Tat: wer – wie Roxin[151] – das unmittelbare Ansetzen schon in der Herbeiführung des Rauschzustandes sieht, müsste heimtückische Tötung bejahen, auch wenn das Opfer die Tötungsabsicht des Volltrunkenen frühzeitig erkennt. Nach der h.M. beginnt der alic-Versuch hingegen erst, wenn der schuldunfähige Täter in die unmittelbare Tatausführungsphase eintritt.[152] Das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr arglose Opfer kann nicht heimtückisch getötet werden. Schwierigkeiten bereitet das unmittelbare Ansetzen als Richtschnur auch in Fällen des Mordes durch Unterlassen, vorausgesetzt man hält die Verwirklichung des Heimtücke-Merkmals durch garantenpflichtwidriges Unterlassen überhaupt für möglich.[153] Da dem Garanten oftmals ein längerer Zeitraum für die Erfüllung der Handlungspflicht zur Verfügung steht und nach h.M. der Versuch nicht schon mit dem Verstreichenlassen der frühestmöglichen Handlungsgelegenheit beginnt,[154] kann der Täter die Arglosigkeit des Opfers vor Überschreiten der Versuchsgrenze beseitigen, indem er ihm z.B. ankündigt, dass er es verhungern lassen werde. Eine solche Vorgehensweise würde allerdings das Mordmerkmal „grausam“ erfüllen.
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Arglosigkeit bedeutet Unkenntnis der konkreten Bedrohungslage.[155] Wer schon vor Beginn des Tötungsversuchs darüber informiert ist, dass jemand alsbald unmittelbar zu einer Tötung ansetzen wird, ist nicht arglos. Dagegen steht das allgemeine Wissen, dass jemand oder mehrere einem nach dem Leben trachten, der Arglosigkeit nicht entgegen.[156] Eine heftige Auseinandersetzung zwischen Täter und Opfer vor der Tat beseitigt nicht automatisch die Arglosigkeit des Opfers.[157] Solange das Opfer keinen Grund zu der Annahme hat, dass der Gegner eine vorsätzliche Attacke auf das Leben unternehmen werde, ist es arglos. Anders kann es allerdings sein, wenn das Opfer den Täter durch einen eigenen Angriff in eine Bedrängnislage gebracht hat, aus der sich dieser nicht anders als durch eine vorsätzliche Tötung befreien kann. Wer einen anderen rechtswidrig angreift, muss damit rechnen, dass der andere sich wehrt und – weil es erforderlich ist – dabei sogar zu einer tödlichen Verteidigungsmaßnahme greift. Vereinfacht ausgedrückt darf ein Angreifer gegenüber dem Notwehrübenden nicht arglos sein; ist er es doch, wird dies rechtlich nicht anerkannt. So hat der 1. Strafsenat in einem Fall entschieden, in dem das später getötete Opfer den Täter zusammen mit einem Mittäter in eine Notwehrlage gedrängt hatte: „Der Annahme heimtückischen Handelns des Angeklagten steht hier entgegen, dass M. wegen seines erpresserischen Angriffs mit Gegenwehr des objektiv noch in einer Notwehrlage befindlichen Angeklagten rechnen musste und deshalb nicht gänzlich arglos sein konnte.[158] … Der Erpresser ist in der von ihm gesuchten Konfrontation mit dem Erpressten im Blick auf einen etwaigen wehrenden Gegenangriff des Opfers auf sein Leben jedoch nicht arglos, wenn er in dessen Angesicht im Begriff ist, seine Tat zu vollenden und zu beenden und damit den endgültigen Rechtsgutverlust auf Seiten des Erpressten zu bewirken. Das sich wehrende Erpressungsopfer handelt in einem solchen Fall mithin in aller Regel nicht heimtückisch.[159] … Mit seinem konkreten Angriff hat das spätere Opfer des Gegenangriffs in aller Regel seine Arglosigkeit bereits zuvor verloren. Er ist der wirkliche Angreifer. Dem Angegriffenen gesteht die Rechtsordnung das Notwehrrecht zu. Mit dessen Ausübung muß jeder Angreifer in solcher Lage grundsätzlich rechnen. Das ist von der strafrechtlichen Werteordnung und damit normativ prägend vorgegeben. Dem entspricht, dass das Notwehrrecht generell im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung tief verwurzelt ist. Der Erpresser ist deshalb unter den hier gegebenen Umständen regelmäßig nicht gänzlich arglos. Das Mordmerkmal der Heimtücke ist einer solchen, auch normativ orientierten einschränkenden Auslegung zugänglich.“[160]
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Probleme entstehen bei der Anwendung des Mordmerkmals Heimtücke bei Opfern, die im Zeitpunkt der Tat überhaupt kein aktuelles Bewusstsein haben. Der Täter könnte diesen Menschen mit einem großen Plakat mit der Aufschrift „Ich werde dich jetzt töten“ oder „Du hast von mir nichts zu befürchten“ gegenübertreten, ohne dass