Handbuch des Strafrechts. Jörg Eisele
Wer dagegen z.B. unfallbedingt die Besinnung verliert oder als Patient auf der Intensivstation im Koma liegt und in diesem Zustand getötet wird, sei nicht als argloses Opfer betroffen.[162] Dasselbe gelte für Kleinkinder von bis zu drei Jahren, die noch keine ausreichende Wahrnehmungsfähigkeit haben und deshalb nicht einmal einem mit gezogener Pistole auf sie zugehenden Täter Argwohn entgegenbringen könnten.[163] Zudem sind kleine Kinder ohnehin wehrlos, was nicht auf Arglosigkeit, sondern ihrer physischen Unterlegenheit beruht: „das Kind ist nicht infolge Arglosigkeit, sondern von Natur aus wehrlos“.[164] Für solche Fälle hat aber die Rechtsprechung einen Ausweg gefunden, der die Annahme von Heimtücke ermöglicht, indem nicht auf Arglosigkeit der getöteten Person, sondern auf Arglosigkeit eines „schutzbereiten Dritten“ abgestellt wird.[165] Das typische Tatmuster ist die Tötung des drei Monate alten Säuglings durch die Mutter, nachdem der Vater, der zuvor auf das Kind aufgepasst hatte, sich schlafen gelegt hatte. Schutzbereiter Dritter ist nach dem BGH „jede Person, die den Schutz eines Kleinkindes vor Leib- und Lebensgefahr dauernd oder vorübergehend übernommen hat und diesen im Augenblick der Tat entweder tatsächlich ausübt oder dies deshalb nicht tut, weil sie dem Täter vertraut. Der schutzbereite Dritte muss auf Grund der Umstände des Einzelfalls den Schutz allerdings auch wirksam erbringen können, wofür eine gewisse räumliche Nähe erforderlich ist“.[166]
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Heimtücke setzt voraus, dass das Opfer auf Grund der Arglosigkeit wehrlos war.[167] Das heißt, dass nicht heimtückisch getötet wird ein Opfer, das einem offen ausgeführten Angriff gegenüber keine besseren Abwehrmöglichkeiten gehabt hätte.[168] Ebenso verhält es sich, wenn die Arglosigkeit die Abwehrchancen des Opfers gegenüber einem ohne Waffe ausgeführten Angriff verschlechtert hat, der Täter das Opfer aber mit der Waffe tötet und die Arglosigkeit des Opfers für die Wehrlosigkeit gegenüber diesem Angriff belanglos war.
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Seit der Entscheidung des Großen Senates für Strafsachen BGHSt 9, 385 ff. reicht die Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers zur Tötung nicht aus, wenn der Täter diese Art der Tötung nicht mit „feindseliger Willensrichtung“ praktiziert. Anlass dieser Einschränkung des Mordtatbestandes war der Fall eines Ehemannes und Familienvaters, der Kind und Ehefrau im Schlaf getötet bzw. zu töten versucht hat, um ihnen damit „eine Wohltat“ zu erweisen.[169] Der Täter wollte den Opfern dadurch Leid, Schmerzen und Todesangst ersparen. Er ist mit dieser Einstellung gewissermaßen das „Gegenmodell“ zu dem Täter, der sein Opfer grausam tötet und dabei eine rohe und unbarmherzige Gesinnung manifestiert. Unnötige Qual und Schmerzen zu bereiten ist grausame Tötung und daher Mord,[170] genau diese tötungsbegleitende Effekte zu vermeiden, verdient eine mildernde Beurteilung. Der Große Senat für Strafsachen leitet dies aus dem Begriff „Heimtücke“ her: „Der Begriff ‚Heimtücke‚ hat nach allgemeinem Sprachgebrauch eine feindliche Willensrichtung des Täters gegen das Opfer zum Inhalt. Diese feindselige Haltung des Täters gegen das Opfer zeigt sich darin, dass er dessen Arg- und Wehrlosigkeit zum Töten ausnutzt. Sie gibt damit dem Gesamtbilde der Tat das Gepräge. Wenn der Täter jedoch – wie hier – seine Familie, die er sehr liebt, mit sich in den Tod nehmen, ihr also das Schicksal bereiten will, das er sich selbst zugedacht hat, weil er in krankhafter Verblendung meint, zum Besten seiner Familie zu handeln, so fehlt es ihm an der feindseligen Willensrichtung, die für das Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit kennzeichnend ist. Er handelt dann nicht heimtückisch“.[171]
bb) Grausamkeit
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Grausam ist im allgemeinen Sprachgebrauch ein Attribut sowohl für Menschen als auch für Ereignisse. Ein Schicksal oder eine Krankheit – z.B. Krebs – können grausam sein. Ein Mensch wird als grausam bezeichnet, wenn er einen Hang zu Taten hat, die ihrerseits als grausam charakterisiert werden. In erster Linie ist es die grausame Behandlung anderer Menschen, die der Grund dafür ist, jemandem die Eigenschaft grausam zuzuschreiben. Grausame Tötungen sind neben grausamen Körperverletzungen in Gestalt von Folter, Marter, Tortur die ausgeprägtesten Erscheinungsformen grausamen menschlichen Verhaltens. Als eine Kombination aus überaus schmerzhafter Körperverletzung, seelischer Quälerei[172] und Tötung stellt sich die Definition des Mordmerkmals „grausam“ dar. Grausam tötet, wer dem Opfer besondere Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zufügt und dies aus roher, gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung heraus tut.[173] Insbesondere langanhaltendes allmählich gesteigertes Leiden des Opfers ist ein typisches Grausamkeitsmerkmal.[174] Gewissermaßen die Umkehrung einer grausamen Tötung ist der „Gnadentod“, den der Täter dem Opfer – z.B. auch Tieren – „schenkt“, um es von einem langen Leiden zu erlösen („kurz und schmerzlos“) bzw. vor lang andauerndem Leiden zu bewahren. Das spezifisch grausame eines Tötungsakts kann sich auch gegen Dritte richten, z.B. wenn Kinder gezwungen werden, der Hinrichtung ihrer Eltern beizuwohnen. Die gefühllose und unbarmherzige Gesinnung des Täters kann auch auf diese Weise zum Ausdruck gebracht werden. Mordmerkmalsgemäß ist jedoch nur die Grausamkeit gegenüber dem Tötungsopfer. Wird dieses schnell und relativ schmerzfrei getötet, kann das immense seelische Leiden der Angehörigen, die dies miterleben müssen, aus dem Totschlag keinen Mord machen. Hat die Tat aber mordgleichen Unrechtsgehalt, kann sie als Totschlag in einem besonders schweren Fall mit lebenslanger Freiheitsstrafe schuldangemessen geahndet werden, § 212 Abs. 2 StGB.[175] Die grausamkeitsbegründenden Tatumstände müssen bei Vollzug der Tötungshandlung, also zwischen unmittelbarem Ansetzen (§ 22 StGB) und Vollendung vorliegen.[176] Grausamkeit – vor allem seelischer Art – im Vorbereitungsstadium (der Täter beschreibt dem Opfer vor der Tat in aller Ausführlichkeit, wie er es zu Tode foltern werde) vermag das Mordmerkmal nur zu begründen, wenn sie in die Phase der Ausführung des Tötungsaktes hineinwirkt.[177] Allgemein anerkannt ist, dass grausame Tötung auch in Form eines unechten Unterlassungsdelikts (§§ 211, 13 StGB) möglich ist. Denn als klassischer Fall grausamer Tötung gilt z.B. das Verhungernlassen eines Kleinkindes durch die Eltern.[178] Kein Mord ist eine ohne Tötungsvorsatz begangene grausame Körperverletzung, die in eine vorsätzliche Tötung übergeht, bei deren Vollzug Grausamkeitsmerkmale nicht mehr vorliegen.[179]
cc) Mit gemeingefährlichen Mitteln
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Entgegen dem Plural im Gesetzestext („Mitteln“ statt „Mittel“) kann das Mordmerkmal auch durch Verwendung eines einzigen gemeingefährlichen Mittels erfüllt werden. Was dafür konkret erforderlich ist, ist sehr umstritten. Rechtsprechung und Literatur stellen darauf ab, dass das eingesetzte Mittel eine „Breitenwirkung“ hat, die sich darin äußert, dass nicht nur das individuelle Opfer, das der Täter töten will, sondern auch noch „unbeteiligte Dritte“ mitbetroffen werden könnten.[180] Charakteristisch für das gemeingefährliche Mittel sei, dass der Täter „die Ausdehnung der Gefahr nicht in seiner Gewalt hat.“[181] Erforderlich ist also, dass mehrere Menschen dem eingesetzten Mittel zum Opfer fallen können, der Täter aber eigentlich nicht alle diese Menschen töten will. Daraus folgt, dass der letzte neben dem Täter noch lebende Mensch niemals mit einem gemeingefährlichen Mittel getötet werden kann, selbst wenn der Täter durch gezielte Sprengung eines Staudamms eine Überschwemmung auslöst, bei der das Opfer ertrinkt.[182] Bei einer Tötung mit gemeingefährlichem Mittel müssen nach der gefestigten Definition immer noch weitere Menschen in der Nähe sein, um durch das verwendete Tötungsmittel zumindest in Lebensgefahr gebracht zu werden. Denn der Grund der behaupteten Höchststrafwürdigkeit sei „eine sozialpsychologisch vermittelte Verunsicherung der Allgemeinheit“.[183] Diese Technik der Tötung werde als „gesteigert bedrohlich empfunden, weil gleichsam jedermann zufällig in den Einzugsbereich eines solchen Tötungsverbrechens geraten kann und deshalb keine Chance hat, sich auf die ihm drohende Gefahr einzustellen und darauf zu reagieren.“[184] Warum sich diese Verunsicherung aber nur dann einstellen soll, wenn der Täter „die Ausdehnung der Gefahr nicht in seiner Gewalt hat“, erschließt sich nicht. Chancenlos ist man gegenüber dem Tatmittel mit Breitenwirkung erst recht, wenn es dem Täter egal ist, wie viele Menschen durch die von ihm ausgelöste Explosion getötet werden. Nicht erkennbar ist auch, wieso die Gefährdung „unbeteiligter