Handbuch des Strafrechts. Jörg Eisele
Grundzüge des Vorschlags hier kurz skizziert:[23] § 211 StGB soll ersatzlos aufgehoben werden. § 212 StGB soll nur noch aus einem Absatz bestehen, der inhaltlich dem jetzigen § 212 Abs. 1 StGB entspricht. § 212 Abs. 2 StGB fällt weg. Die Strafdrohung des § 212 StGB soll Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren oder lebenslange Freiheitsstrafe sein. Erwartungsgemäß löste dieser „stark aus der Reihe“ fallende „Radikalvorschlag“[24] ein starkes Echo aus und inspirierte unter anderem einen ebenfalls originellen Gegenentwurf von Tonio Walter[25] sowie einen sehr ähnlichen Alternativvorschlag von Gunnar Duttge.[26]
1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 1 Tötungsdelikte › B. Hauptteil
I. Tatbestände
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Als „Tötungsdelikte“ werden üblicherweise die im Sechzehnten Abschnitt des Besonderen Teils im Strafgesetzbuch normierten Straftaten mit Ausnahme des Schwangerschaftsabbruchs (§§ 218–219b StGB) bezeichnet.[27] Die zentralen Tatbestände sind Totschlag (§ 212 StGB) und Mord (§ 211 StGB). Ebenfalls Tötungsdelikte sind die Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) und die geschäftsmäßige Suizidbeihilfe (§ 217 StGB). Diese werden in diesem Handbuch als Erscheinungsformen von „Sterbehilfe“ in einem eigenen Artikel (→ BT Bd. 4: Christian Schwarzenegger, Sterbehilfe, § 2) bearbeitet. Als allgemeiner Tötungsfahrlässigkeitstatbestand gehört die Fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) in den hiesigen Kontext. Den Charakter eines Lebensgefährdungsdelikts hat die Aussetzung (§ 221 StGB), die deshalb als Tötungsdelikt im weiteren Sinne in diesen Bereich einbezogen ist. Von 1954 bis 2002 enthielt der sechzehnte Abschnitt mit dem Völkermord (§ 220a StGB) einen weiteren Tötungsdeliktstatbestand.[28] Mit der Schaffung des am 30. Juni 2002 in Kraft getretenen Völkerstrafgesetzbuches ist dieser Tatbestand in § 6 VStGB verlagert worden.[29]
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Daneben kennt das Strafrecht – einschließlich des Nebenstrafrechts – zahlreiche Straftatbestände, die primär dem Schutz anderer Rechtsgüter gewidmet sind, die aber die Beeinträchtigung des Rechtsgutes Leben als zweite strafbarkeitsbegründende oder strafschärfende Unrechtskomponente aufweisen.[30] Das ist zunächst die Gruppe der abstrakten und konkreten Lebensgefährdungsdelikte, deren Tatbestandsmäßigkeit auf abstrakt lebensgefährlichen oder konkreten lebensgefährdenden Handlungen beruht. Zur erstgenannten Kategorie gehört z.B. die schwere Brandstiftung (§ 306a Abs. 1 StGB)[31], zur zweiten die Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB)[32]. Des Weiteren sind zu erwähnen die erfolgsqualifizierten Delikte, bei denen die schwere Folge i.S.d. § 18 StGB ein Todeserfolg ist, wie z.B. Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) und Brandstiftung mit Todesfolge (§ 306c StGB). Im Nebenstrafrecht findet man diese Tatbestandsgattung in § 97 AufenthG. Die Nähe dieser Straftatbestände zu Mord und Totschlag wird durch ihre Zuordnung zur sachlichen Zuständigkeit der Schwurgerichtskammer bekräftigt, § 74 Abs. 2 GVG.
1. Tatobjekt Mensch
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Alle hier erläuterten Straftatbestände schützen das Rechtsgut „Leben“.[33] Gemeint ist menschliches Leben.[34] Geschütztes Objekt ist also ein Mensch. Dieser Mensch muss im Zeitpunkt der Tat schon und noch existieren, d.h. am Leben sein. Aus dem tatbestandlichen Schutzbereich ausgegrenzt ist das „werdende Leben“ des zwar schon gezeugten, aber noch nicht geborenen – künftigen – Menschen, sowie der Verstorbene. Straftaten in Bezug auf Verstorbene sind Thema des Strafrechts in §§ 168, 189 StGB, strafrechtlicher Schutz des nasciturus in der Schwangerschaftsphase ist Gegenstand der §§ 218 ff. StGB. Taten im unmittelbaren Umfeld der Geburt werfen die Frage der Abgrenzung der §§ 211 ff. von § 218 StGB auf. Wird von der Tat ein noch nicht lebender Mensch betroffen, greifen die §§ 211 ff. StGB nicht ein. Die Tat ist entweder gemäß §§ 218 ff. StGB oder auf der Grundlage des Embryonenschutzgesetzes strafbar oder straflos. Für die Anwendbarkeit der §§ 211 ff. StGB[35] von grundlegender Bedeutung ist deshalb die Festlegung der Grenze, an der menschliches Leben im Sinne der Tötungsdeliktstatbestände beginnt. Die Existenz der §§ 218 ff. StGB ist ein eindeutiges positivgesetzliches Signal, dass das im Mutterleib heranreifende Wesen vor der Geburt kein „Mensch“ ist und nicht durch §§ 211 ff. StGB geschützt wird. Die Abgrenzungsfrage reduziert und konzentriert sich daher auf den genauen Punkt im mehrphasigen Geburtsvorgang, der den Übergang vom nasciturus zum Mensch markiert. Bis 1998[36] gab die ehemalige Strafvorschrift zur „Kindestötung“ in § 217 StGB Auslegungshilfe, indem sie auf eine gegen das Kind in statu nascendi gerichtete Handlung „in oder gleich nach der Geburt“ abstellte.[37] Tötung „in der Geburt“ galt also bereits als Angriff auf menschliches Leben im Sinne der §§ 211 ff. StGB. Daraus folgte, dass das Rechtsgutsobjekt, gegen das sich die Tat „in der Geburt“ richtet, bereits ein „Mensch“ i.S.d. §§ 211 ff. StGB ist. In gynäkologische Kategorien übertragen meint „in der Geburt“ den Zeitraum vom Beginn der Eröffnungswehen bis zum Austreten des Kindes aus dem Körper der Mutter.[38] Der sachliche Grund für diesen frühzeitigen Beginn der strafrechtlichen Menschwerdung ist das Bedürfnis nach strafrechtlichem Schutz des Kindes während der mit spezifischen Risiken behafteten Geburtsphase.[39] Vor allem gegenüber fahrlässigem Fehlverhalten des geburtshelfenden Personals (Arzt, Hebamme) oder der Mutter wäre das Kind ohne strafrechtlichen Schutz, wenn es noch nicht die Qualität eines Menschen hätte. Denn §§ 218 ff. StGB erfassen – vorsätzliche und fahrlässige – nicht tödliche Schädigungen des Körpers und der Gesundheit nicht und beziehen sich auch im Bereich der für die Leibesfrucht „tödlich“ endenden Vorgänge nur auf Vorsatztaten. Da der nasciturus aber mit Einsetzen der Eröffnungswehen zum Menschen wird, greift von diesem Punkt an schon der Schutz der §§ 222, 229 StGB. Aus diesem Grund hat der Wegfall des früheren § 217 StGB keinen Anlass für eine Neubewertung des Abgrenzungsthemas gegeben.[40] Mit dem Beginn der Geburt ist die Leibesfrucht ein Mensch und eine zu ihrem Tod nach diesem Zeitpunkt führende Handlung eine Tötung i.S.d. §§ 211 ff. StGB.
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Allerdings ist Eintritt des Todeserfolges nach Einsetzen der Eröffnungswehen oder nach Beendigung der Geburt nur ein Indiz für eine tatbestandsmäßige Tötung. Wurde nämlich die zum Todeserfolg führende Handlung vor Geburtsbeginn (pränatal) begangen, lag jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch kein „Mensch“ i.S.d. §§ 211 ff. StGB vor. Daher ist zu klären, ob der Zeitpunkt des Handlungsvollzugs oder der Zeitpunkt des Erfolgseintritts über die Menschqualität des Tatobjekts entscheidet. Stellte man auf den Zeitpunkt des Todeserfolgseintritts ab, bestünde die Gefahr, dass die Handlungsfreiheit der schwangeren Frau durch Strafdrohungen unverhältnismäßig eingeschränkt wird. Eine fahrlässige Schädigung des nasciturus, infolge der das Kind mit einer Behinderung auf die Welt kommt oder kurz nach der Geburt verstirbt, wäre als fahrlässige Körperverletzung oder fahrlässige Tötung strafbar. Dies stünde in einem Wertungswiderspruch zu §§ 218 ff. StGB:[41] fahrlässiges Fehlverhalten, das zum Abbruch der Schwangerschaft führt, wäre gemäß § 15 StGB nicht aus § 218 StGB strafbar.[42] § 229 StGB käme nicht zur Anwendung, weil der vor Beginn der Geburt „gestorbene“ nasciturus noch kein Mensch war. Die Schwangere bliebe also straffrei. Wenn aber eine schwerwiegende Fruchtschädigung, die bereits Absterben im Mutterleib zur Folge hat, straflos ist, dann darf eine Schädigung, die weniger schwerwiegend ist und die Geburt nicht verhindert, erst recht nicht strafbar sein. Hinzu kommt Folgendes: Die Aussicht ein schwer behindertes Kind zur Welt zu bringen und zudem wegen eigenen dafür ursächlichen Fehlverhaltens nach § 229 StGB strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden, würde den Druck auf die Schwangere zur Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs erhöhen. Dieser wäre gemäß § 218a Abs. 2 StGB eventuell straflos. Zu überlegen wäre des Weiteren, ob die Schwangere aus dem Gesichtspunkt der Ingerenz[43] eine Garantenpflicht (§ 13 StGB) hätte, die Geburt