Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt.[456] Gesetz in diesem Sinne können sowohl Bundes- als auch Landesgesetze sein.[457] Erforderlich ist aber ein formelles Gesetz, das Freiheitsbeschränkungen in berechenbarer, messbarer und kontrollierbarer Weise regelt.[458] Ebenso wie bei Art. 103 Abs. 2 GG lässt das Bundesverfassungsgericht freilich auch im Rahmen des Art. 104 Abs. 1 GG eine Spezifizierung des Gesetzes, das die Freiheitsbeschränkung regelt, durch Blankettgesetze zu, sofern das ermächtigende Gesetz hinreichend deutlich bestimmt, welches Handeln zu einer Freiheitsbeschränkung führen kann.[459]
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Bei den Formvorschriften, deren Einhaltung Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG fordert, handelt es sich um die grundlegenden verfahrensrechtlichen Bestimmungen des betreffenden Gesetzes.[460] Dazu zählen etwa Antragserfordernisse, Fristen und vor allem die vorherige Anhörung des Betroffenen.[461] So gehört das in § 115 Abs. 2 StPO enthaltene Gebot, den Beschuldigten nach Ergreifung aufgrund eines Haftbefehls vernehmen zu lassen, zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien i.S.d. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG.[462] Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls durch den Richter nur zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zur Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben, gehört ebenfalls zu den unabdingbaren Verfahrensgarantien, die Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG im Blick hat.[463] Ein Verstoß gegen die im ermächtigenden Gesetz vorgeschriebenen Formen führt zur Verfassungswidrigkeit des Eingriffs;[464] eine rückwirkende Heilung des Verfahrensmangels ist ausgeschlossen.[465]
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Ferner enthält das Misshandlungsverbot des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG eine explizite materielle Regelung für den Vollzug jedweder Freiheitsbeschränkung, gleichgültig, ob sie von der Exekutive oder der Judikative angeordnet ist.[466] Dieses vorbehaltlose Verbot, das auf einfachgesetzlicher Ebene in § 136a StPO konkretisiert ist, wird durch das absolute und sogar im Falle des Notstands nicht derogierbare Folterverbot nach Art. 3 EMRK noch einmal verstärkt.[467] Freilich richtet sich die Schutzrichtung des Misshandlungsverbots nicht gegen das Festhalten selbst; derartige Eingriffe sind unter dem Aspekt des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG grundrechtsneutral.[468] Der Schutz der körperlichen und psychischen Integrität ist im Polizeigewahrsam oder in Gefängnissen aber nicht geringer als außerhalb.[469] Selbst in Extremsituationen wie bei Kindesentführungen oder drohenden terroristischen Anschlägen ist Folter des Festgenommenen ausnahmslos untersagt.[470] Auch die Androhung von Folter zur Gewinnung von Informationen zum Schutz elementarer Verfassungsgüter stellt eine im Blick auf Art. 104 Abs. 1 S. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verbotene Vernehmungsmethode dar.[471] Nicht alles, was ethisch möglicherweise legitimiert werden kann, ist verfassungsrechtlich hinnehmbar.[472] Demgegenüber liegt in einer Kontaktsperre (§§ 31–38a EGGVG) keine Misshandlung, solange sie drei Monate nicht überschreitet.[473] Die Zwangsernährung (§ 101 StVollzG) dürfte ebenfalls keinen Verstoß gegen Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG darstellen;[474] sie ist aber am allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu messen.[475] Das zwangsweise Verabreichen von Brechmitteln zur Beweissicherung wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte indes zu Recht als Verstoß gegen Art. 3 EMRK gewertet.[476]
2. Spezielle Vorgaben bei Freiheitsentziehungen
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Für den schwersten Eingriff in das Recht der persönlichen Freiheit, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG dem Vorbehalt des förmlichen Gesetzes aus Art. 104 Abs. 1 GG den weiteren verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht.[477] Eine Freiheitsentziehung liegt vor, wenn die – tatsächlich und rechtlich an sich gegebene – körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben, sie also auf einen eng umgrenzten Raum beschränkt ist.[478] Ein Einsperren im Wortsinne ist nicht erforderlich; die getroffene Maßnahme (z.B. Medikation) bedarf aber einer tatsächlichen Auswirkung auf die körperliche Bewegungsfreiheit und einer gewissen Mindestdauer.[479] Wird die körperliche Bewegungsfreiheit nur kurzzeitig aufgehoben, wie etwa bei zwangsweisen Vorführungen, liegt zwar eine Freiheitsbeschränkung, nicht aber eine Freiheitsentziehung vor.[480] Aus welcher Motivation eine Freiheitsentziehung erfolgt, ist unbeachtlich. Erfasst werden nicht nur repressive Maßnahmen wie Freiheitsstrafen, sondern etwa auch die (präventive) Sicherungsverwahrung.[481] Die in Art. 104 Abs. 3 GG genannte „Festnahme“ stellt ebenfalls einen Anwendungsfall der Freiheitsentziehung dar.[482]
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Die Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung obliegt nach Art. 104 Abs. 2 und Abs. 3 GG ausschließlich dem Richter. Der Richtervorbehalt kommt nicht nur bei der erstmaligen Anordnung der Freiheitsentziehung, sondern auch zum Tragen, wenn eine Freiheitsentziehung über den ursprünglich festgelegten Termin hinaus verlängert wird.[483] Auch sonstige Folgeentscheidungen unterfallen dem (erneuten) Richtervorbehalt.[484] Damit steht die Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG unter erhöhtem prozeduralen Schutz; der Richter hat in vollem Umfang die Verantwortung für den Freiheitseingriff zu übernehmen.[485] Er muss selbst die Tatsachen feststellen, die eine Freiheitsentziehung rechtfertigen,[486] und er muss die betroffene Person persönlich anhören,[487] und zwar auch, wenn diese nur eingeschränkt äußerungsfähig ist.[488] Die richterliche Entscheidung ist einzelfallbezogen schriftlich zu begründen; das bloße Ankreuzen vorgegebener Textbausteine genügt nicht.[489]
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Grundsätzlich bedarf die Entziehung der persönlichen Freiheit einer vorherigen richterlichen Entscheidung. Art. 104 Abs. 2 S. 2 und S. 3 GG sichert den Richtervorbehalt aber auch in Fällen, in denen ausnahmsweise eine Festnahme ohne vorherige richterliche Entscheidung erfolgen muss, weil andernfalls der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung genügt allerdings nur, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte Zweck anderenfalls vereitelt würde.[490] Außerdem ist die Entscheidung des Richters unverzüglich herbeizuführen. „Unverzüglich“ bedeutet, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen ergibt, nachgeholt werden muss.[491] Nicht vermeidbar sind z.B. Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein renitentes Verhalten des Festgenommenen und vergleichbare Umstände entstehen.[492] Die Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung nach mehr als vier Tagen ist aber selbst bei Ermittlung wegen terroristischer Bedrohung nicht mehr prinzipiell als unverzüglich zu werten.[493] Der Staat hat vielmehr die verfassungsrechtliche Verpflichtung, durch organisatorische Maßnahmen die Erreichbarkeit des zuständigen Richters zu gewährleisten.[494] Auch soweit eine Verhaftung extraterritorial erfolgt, beansprucht Art. 104 GG Geltung,[495] wenngleich die Besonderheiten der Ausübung öffentlicher Gewalt im Ausland berücksichtigt werden dürfen.[496] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bei Ingewahrsamnahme auf Hoher See Zeiträume von knapp über zwei Wochen bis zur Richtervorführung als gerade noch mit Art. 5 Abs. 3 EMRK vereinbar erachtet.[497]
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Art. 104 Abs. 2 S. 3 und Abs. 3 GG modifizieren die allgemeinen Regelungen des Art. 104 Abs. 2 GG für die Festnahme durch die Polizei bzw. für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren und stellen Spezialvorschriften mit ergänzendem Inhalt dar,[498] die im Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung stehen.[499] Auch deshalb entbindet die in Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG enthaltene Höchstfrist („Ende des Tages nach dem Ergreifen“) nicht von der in Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG niedergelegten Verpflichtung, eine richterliche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen.[500] Bei vorläufigen Festnahmen wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung legt Art. 104 Abs. 3 GG eine absolute Höchstfrist fest, innerhalb derer der Richter eingeschaltet, der Betroffene ihm also „vorgeführt“ werden muss. Die Entscheidung des Richters braucht aber nicht innerhalb dieser Höchstfrist zu erfolgen, sondern erst unverzüglich nach Einschaltung (Art. 104 Abs. 3 S. 2 GG). Dadurch kann anders als nach Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG im Rahmen der Strafverfolgung nach Art. 104 Abs. 3 GG die Entscheidung des Richters auch zeitlich erst nach der Höchstfrist ergehen.[501]