Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
als das Recht auf ein faires Verfahren, das auf die Autonomie der Beteiligten und eine angemessene Verfahrensbalance zielt, will die gerichtliche Fürsorgepflicht die Kehrseite der Autonomie, die Verantwortung, erleichtern.[542] Deshalb wird die Fürsorgepflicht inhaltlich auch allgemein als gerichtliche Hilfe und Unterstützung für den Beschuldigten bei der sachgemäßen Wahrung und Wahrnehmung seiner prozessualen Belange beschrieben.[543] Diese Hilfe soll über die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs hinausgehen.[544] Im Einzelnen werden dazu gesetzlich geregelte Hinweis- und Belehrungspflichten des Gerichts, die Pflicht zur Wahrheitsermittlung, die Pflicht zur Kundgabe eines prozessualen Fehlers und seiner Heilung, sowie die Pflicht, die Verfahrensbeteiligten vor Überraschungsentscheidungen zu bewahren, gezählt.[545] Ohne genaue verfassungsrechtliche Herleitung hat sich auch das Bundesverfassungsgericht den Gedanken der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts zu Eigen gemacht.[546]
IV. Nulla poena sine culpa
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Der Grundsatz nulla poena sine culpa (Schuldprinzip) hat den Rang eines aus dem Zusammenspiel von Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Verfassungsrechtssatzes,[547] der nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sogar zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität zählt.[548] Nach dem Schuldprinzip müssen zum einen gesetzlicher Tatbestand und Strafrahmen, gemessen an der materiellen Gerechtigkeit, einander entsprechen.[549] Zum anderen hat die im Einzelfall verhängte Strafe in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der Schuld des Täters zu stehen.[550] Damit hat der Schuldgrundsatz als Mittel zur Begrenzung von Strafe vor allem materiell-rechtliche Bedeutung und weist Überschneidungen mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip auf.[551] Aus ihm folgen jedoch ebenfalls wichtige verfahrensrechtliche Anforderungen an die Schuldfeststellung, insbesondere das Gebot der Wahrheitserforschung.[552]
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Die Anknüpfung an die persönliche Schuld folgt als Konsequenz aus der freien selbstbestimmten Willensentscheidung des Täters als einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit.[553] Die Vorstellung eines prinzipiell mit freiem Willen und eigenverantwortlich handelnden Menschen liegt der Verfassung, namentlich dem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung nach Art. 2 Abs. 1 GG, zugrunde und findet auch in der zivilrechtlichen Anerkennung der Privatautonomie ihren Ausdruck.[554] Dementsprechend hat auch das Strafrecht im Regelfall von der Fähigkeit des Einzelnen auszugehen, sich frei für Recht oder Unrecht entscheiden zu können.[555] Entscheidet sich der Einzelne bewusst oder aus Nachlässigkeit für das Unrecht, lädt er strafrechtliche Schuld auf sich.[556] Philosophische und neurobiologische Erkenntnisse zur Willens(un)freiheit des Individuums sind für die normative Setzung des strafrechtlichen Schuldprinzips unerheblich, da jede Rechtsordnung auf Zurechnungsregeln angewiesen ist.[557] Nur in Ausnahmefällen kann gegen einen Schuldunfähigen (§§ 19, 20 StGB) oder einen schuldlos Handelnden (§ 35 StGB) ein Schuldvorwurf nicht erhoben und darf daher keine Strafe verhängt werden.
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Nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts folgt aus dem Schuldprinzip zwingend, dass die Schuld an eine konkrete Tat anknüpfen muss; die Schuld des Täters ist also „Tatschuld“.[558] Der Schuldgrundsatz steht damit der Lehre vom normativen Tätertyp entgegen, die vor allem im nationalsozialistischen Rechtsdenken verhaftet war[559] und in Einzelfällen im geltenden StGB weiterhin aufscheint.[560] Zu Recht hat deshalb eine Expertengruppe vorgeschlagen, das in §§ 211, 212 StGB enthaltene Relikt der normativen Tätertypen („Mörder“, „Totschläger“) zu reformieren.[561] Das verfassungsrechtliche Bedenken an der Lehre vom normativen Tätertyp liegt nämlich vor allem darin, dass sie auf die „Volksanschauung“, wer typischerweise als Unrechtstäter in Betracht kommt, zurückgreift[562] und wegen dieser Unbestimmtheit im Einzelfall zu einer Strafbarkeitserweiterung führen kann. Gewisse Überschneidungen dieser Lehre gibt es mit dem – eindeutig verfassungswidrigen – Konzept eines sog. „Feindstrafrechts“ und dem ebenfalls nicht unproblematischen Ansatz eines „Gesinnungsstrafrechts“.[563] Auch das gegenwärtig diskutierte Unternehmensstrafrecht, wonach Straftaten unter Umständen auch Verbänden und juristischen Personen des Privatrechts zugerechnet werden, reibt sich mit den hergebrachten Anforderungen des Schuldgrundsatzes.[564]
V. Unschuldsvermutung
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Die in Art. 6 Abs. 2 EMRK statuierte Unschuldsvermutung genießt in Deutschland Verfassungsrang, obgleich sie im Grundgesetz nicht ausdrücklich normiert ist. Unter Rückgriff auf die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte[565] erkennt das Bundesverfassungsgericht die Unschuldsvermutung als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips mit Berührungspunkten zum Fairnessgebot, zum Schuldprinzip und zur Menschenwürdegarantie an.[566] Zugleich verdeutlichen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, dass die Unschuldsvermutung über das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), jedenfalls aber über Art. 2 Abs. 1 GG subjektivrechtlich einklagbar ist.[567] Die Unschuldsvermutung schützt den Beschuldigten zum einen vor sämtlichen Nachteilen, die einem Schuldspruch oder einer Strafe gleichkommen, denen aber kein prozessförmliches Verfahren zur Schuldfeststellung vorausgegangen ist.[568] Zum anderen verlangt die Unschuldsvermutung des rechtskräftigen Nachweises der Schuld, bevor diese dem Betroffenen im Rechtsverkehr entgegengehalten werden kann.[569] Die Unschuldsvermutung steht ferner in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz „in dubio in reo“, wonach der Angeklagte freizusprechen ist, wenn der legale Beweis seiner Schuld nicht erbracht ist.[570]
VI. Nemo tenetur se ipsum accusare
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Der althergebrachte Grundsatz der Aussagefreiheit des Beschuldigten und des Verbots des Zwangs zur Selbstbelastung ist zwar in Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR verankert, findet aber weder im Grundgesetz noch in der Europäischen Menschenrechtskonvention explizite Erwähnung.[571] Dennoch wird der nemo tenetur-Grundsatz als Verfassungsprinzip qualifiziert, das zum einen in engem Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK und dem Kernbereich eines fairen Verfahrens i.S.d. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK steht, zum anderen im Rechtsstaatsprinzip und in der Menschenwürdegarantie, wenigstens aber im allgemeinen Persönlichkeitsrecht wurzelt.[572] Geschützt ist die Freiheit von Zwang, sich durch eigene Aussagen einer Straftat zu bezichtigen oder zu der eigenen Überführung aktiv beizutragen.[573] Der tiefere Grund der verfassungsrechtlichen Garantie der Aussagefreiheit des Beschuldigten ist freilich darin zu sehen, dass jedweder Folter oder unmenschlichen Behandlung zur Gewinnung von selbstbelastenden Aussagen entgegengewirkt werden soll. Deshalb geht der Schutz des nemo tenetur-Prinzips über die bloße Aussagefreiheit des Beschuldigten hinaus und ergreift personell auch Aussageverweigerungsrechte von Zeugen. Während dem Zeugnisverweigerungsrecht nach §§ 52–54 StPO der Gedanke zugrunde liegt, nahen Verwandten und bestimmten Vertrauenspersonen des Beschuldigten den Konflikt zwischen Wahrheitspflicht und anderen grundgesetzlich verbrieften Rechten, etwa dem Recht auf Intim- oder Privatsphäre (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG), zu ersparen,[574] zielt das Aussageverweigerungsrecht nach § 55 StPO allein auf die Wahrung des nemo tenetur-Prinzips.
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Inhaltlich ist der nemo tenetur-Grundsatz tendenziell weit zu verstehen. So darf das Schweigen des Beschuldigten nicht als belastendes Indiz gegen ihn verwendet werden, wenn er die Einlassung zur Sache vollständig verweigert hat.[575] Anderes gilt allerdings in Fällen des Teilschweigens; insoweit dürfen im Rahmen der Beweiswürdigung nachteilige Schlüsse gezogen werden, da der Kern der Menschenwürde, aus der der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit folgt, nicht berührt ist.[576] Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht das Schweigerecht des Beschuldigten nicht als absolut geschützt an.[577] Er hält aber – ebenso wie inzwischen auch das Bundesverfassungsgericht – den