Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
Befragung durch einen verdeckten Ermittler unterzogen wird.[578] Zu weit gehen würde es jedoch, den nemo tenetur-Grundsatz schlechthin auf einen Schutz gegen Täuschung oder List zu erstrecken; erst recht schützt das Verbot nicht gegen heimliche Ermittlungsmaßnahmen.[579] Insoweit ist auch der Einsatz von Lockspitzeln („agents provocateurs“) als Ermittlungsmaßnahme zur Bekämpfung von schwerer Kriminalität grundsätzlich statthaft.[580] Unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte[581] judiziert der zweite Strafsenat des Bundesgerichtshofs jedoch nunmehr, dass aktive Tatverleitungen durch physischen oder psychischen Druck zu einem Verfahrenshindernis[582] und nicht mehr lediglich zur Strafmaßreduzierung führen können.[583]
VII. In dubio pro reo
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Der strafverfahrensrechtliche Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ ist weder in der Strafprozessordnung noch im Grundgesetz ausdrücklich niedergelegt. Obwohl das Bundesverfassungsgericht diesen Grundsatz seinen Entscheidungen zugrunde legt, hat es dessen verfassungsrechtlichen Rang bislang offengelassen.[584] Da das Prinzip in dubio pro reo letztlich aus einem Zusammentreffen von materiellem Schuldgrundsatz und prozeduraler Unschuldsvermutung folgt und diese beiden Grundsätze jeweils Verfassungsrang genießen, liegt es freilich nahe, auch dem in dubio-Grundsatz gewohnheitsrechtlichen Verfassungsrang zuzusprechen.[585] In der Sache ist der Grundsatz allerdings eng auszulegen. So ist er nicht schon dann verletzt, wenn der Richter hätte zweifeln müssen, sondern nur dann, wenn er verurteilt, obgleich er tatsächlich zweifelt.[586] Eine fehlerhafte Beweisaufnahme oder -würdigung verletzt deshalb nur dann spezifisches Verfassungsrecht, wenn sich das Gericht von rechtsstaatlichen Grundsätzen so weit entfernt hat, dass der rationale Charakter der Entscheidung verlorengeht und sie keine tragfähige Grundlage mehr für die mit einem Schuldspruch einhergehende Strafe sein kann. Der Zweifelssatz bezieht sich außerdem nicht auf einzelne Beweiselemente, sondern erst auf die abschließende Gewinnung der Überzeugung aufgrund der gesamten Beweissituation; er ist also keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel.[587] Allerdings können bestimmte Geheimhaltungsinteressen der Exekutive im Strafverfahren durchaus in dubio pro reo wirken.[588]
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 2 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Strafrecht › E. „Strafverfassungsrecht“ und verfassungsgerichtliche Kontrolle einfachgesetzlicher Gewährleistungen
E. „Strafverfassungsrecht“ und verfassungsgerichtliche Kontrolle einfachgesetzlicher Gewährleistungen
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Die zahlreichen Verfassungsgarantien, die für das materielle und das prozessuale Strafrecht von Relevanz sind, werfen die Frage nach ihrem Einfluss auf das einfache Recht und damit auch nach dem Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte auf. Dass alle Vorschriften des einfachen Rechts mit der Verfassung übereinstimmen müssen, ergibt sich aus dem Vorrang der Verfassung, der Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung und die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) sowie, besonders für das Strafrecht, auch aus dem Rechtstaatsprinzip und seinen wesentlichen Teilgrundsätzen. Andererseits trägt freilich auch das einfache Recht durch seine Konkretisierungsfunktion zu den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen gegenüber der staatlichen Strafgewalt bei;[589] diese umgekehrte Einflussnahme gilt namentlich für die normgeprägten Justizgrundrechte. Die bloße Feststellung der Verfassungsrelevanz gibt jedoch noch keine Auskunft darüber, ob bestimmte strafrechtliche oder strafprozessuale Vorschriften auch verfassungsgeboten sind[590] und damit ihre Verletzung zugleich einen Verfassungsverstoß begründet, der vom Bundesverfassungsgericht kontrolliert und sanktioniert werden kann.[591] Insgesamt besehen, dürfte eine solche verfassungsrechtliche „Hochzonung“ strafrechtlicher Regelungen eher eine seltene Ausnahme bleiben. Denn nur wenige das Strafverfahrensrecht beherrschende Prinzipien, wie etwa das Folter- und Missbrauchsverbot, können als unmittelbar verfassungsrechtlich verbürgt angesehen werden mit der Folge, dass sie der Auslegungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts umfänglich unterworfen sind. Die Mehrzahl strafverfahrensrechtlicher Grundsätze lässt sich hingegen nur mittelbar oder in einer Gesamtschau auf Verfassungsgrundsätze zurückführen.[592] Dies gilt beispielsweise für das strafrechtliche Schuldprinzip und den nemo tenetur-Grundsatz.[593] Auch die Grundsätze der Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Verhandlung (§§ 33 Abs. 1, 250 f. StPO, § 169 GVG) stellen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts schlichte Prozessrechtsmaximen dar, die kein eigenständiges verfassungsrechtliches Fundament aufweisen, sondern auf verschiedene Verfassungsprinzipien zurückzuführen sind.[594] Mit Ausnahme der aufgrund von Art. 26 Abs. 1 S. 2 GG getroffenen Regelungen des § 80a StGB und des § 13 VStGB[595] entspringt das materielle Strafrecht sogar überhaupt keinem Verfassungsgebot; die aus den Grundrechten folgenden Schutzpflichten gelten nicht absolut, sondern erfordern jeweils eine Abwägung mit anderen – meist abwehrrechtlichen – Belangen.
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Die Gemengelage von einfachem Recht und Verfassungsrecht[596] führt dazu, dass Umfang und Reichweite der verfassungsrechtlichen Kontrollbefugnis gegenüber dem Strafrecht nur schwer verallgemeinernd zu konturieren sind.[597] Festhalten lässt sich allerdings, dass die Verfassungsrechtsprechung bislang tiefer in die Gestaltung des Strafprozessrechts als in jene des materiellen Strafrechts eingegriffen hat.[598] Dies dürfte jedoch nur zum Teil an der spezifischen Materie des formstrengen Prozessrechts, sondern vielmehr vor allem daran liegen, dass in verfassungsgerichtlichen Verfahren vornehmlich richterliche Entscheidungen auf dem Prüfstand und damit denknotwendig auch prozedurale Aspekte im Vordergrund stehen. Denn das Bundesverfassungsgericht nimmt eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts insbesondere dann an, wenn ein Fachgericht die Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts bei der Auslegung oder Anwendung des einfachen Rechts grundsätzlich verkennt, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachtet oder objektiv willkürlich entscheidet.[599] Für den Bereich des Strafrechts bedeutet dies, dass das Bundesverfassungsgericht seine Eingriffsmöglichkeiten neben der Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht gerade auch von der Intensität der geltend gemachten Grundrechtsbeeinträchtigung durch die Fachgerichte abhängig macht.[600] Je nachhaltiger oder gravierender eine gerichtliche Entscheidung grundrechtsgeschützte Voraussetzungen freiheitlicher Existenz oder Betätigung verkürzt, desto eingehender fällt die verfassungsrechtliche Prüfung aus.[601] Auf der anderen Seite stellt das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung der in Art. 101 Abs. 1 S. 2, Art. 103 Abs. 2 GG garantierten rechtsstaatlichen Regeln regelmäßig nur in Fällen offenkundiger Defizite strafgerichtlicher Entscheidungen fest.[602] Diese Zurückhaltung lässt sich möglicherweise damit erklären, dass die grundgesetzliche Gewährleistung des gesetzlichen Richters und des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots gerade in der (förmlichen) Gesetzlichkeit besteht.[603] Bei den Verfahrensrechten, etwa bei einer Verkürzung des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG, steht hingegen der rechtsstaatliche Charakter des Verfahrens im Vordergrund. Auch hier stellt jedoch nicht jede Verletzung einfachgesetzlicher Bestimmungen zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar; grundrechtsrelevant sind nur ernstliche und grobe Verletzungen, die sich in der angegriffenen richterlichen Entscheidung niederschlagen.[604]
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Noch deutlicher als gegenüber der Fachgerichtsbarkeit nimmt das Bundesverfassungsgericht seine Kontrollbefugnis gegenüber dem Gesetzgeber zurück. Gerade wegen der aus dem Demokratieprinzip folgenden Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers hat die verfassungsrechtliche Überprüfung von materiellen Strafnormen bisher noch zu keinen nennenswerten Beanstandungen durch das Bundesverfassungsgericht geführt.[605] Wiederkehrend betont das Bundesverfassungsgericht, dass es nicht überprüfen könne, ob der Gesetzgeber mit seiner strafrechtlichen Regelung die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden habe.[606] Dennoch steht zugleich außer Zweifel, dass der Gesetzgeber beim Erlass von Strafvorschriften nicht ungebunden agieren kann. Das Bundesverfassungsgericht