Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
lässt sich auch nach offenen und geschlossenen Systemen. Die Elemente eines offenen Systems sind modifizierbar und ergänzbar, die eines geschlossenen Systems nicht.[51] Leitbild geschlossener Systeme ist das Axiomensystem. Es liegt auf der Hand, dass für die Rechtswissenschaft, deren Erkenntnisbereich andauerndem Wandel unterworfen ist, grundsätzlich nur offene Systeme von Nutzen sind.[52]
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Damit verwandt, aber nicht ganz deckungsgleich ist die Unterscheidung von starren und beweglichen Systemen.[53] In einem beweglichen System kann das Fehlen bestimmter Systemelemente (z.B. im Rahmen einer Anspruchsgrundlage) durch eine besonders deutliche Ausprägung anderer Systemelemente kompensiert werden, in starren Systemen nicht. Wegen des hohen Bestimmtheits- und Formalisierungsgrades im Strafrecht kommen „bewegliche“ Systeme hier weniger in Betracht, sind aber keineswegs völlig ausgeschlossen.
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So wird man etwa nicht behaupten wollen, dass Zweifel an der Kausalität einer bestimmten Handlung durch einen besonders deutlich ausgeprägten Schaden kompensiert werden können. Andererseits wird vertreten, dass etwa beim entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) das Fehlen des dort erforderlichen Nähebezugs zwischen Akteur und Gefahr (Handeln, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer sonst nahestehenden Person abzuwenden) durch eine besondere Schwere der Gefahrensituation ausgeglichen werden könne, so dass sich von der Nähebeziehung absehen ließe (sog. übergesetzlicher entschuldigender Notstand).[54] Das Beispiel zeigt, dass der Grundgedanke eines „beweglichen“ Systems auch dem Strafrecht nicht vollständig fremd ist.
6. Abschnitt: Die Straftat › § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht › D. Strafrecht zwischen Systembindung und Willkür
D. Strafrecht zwischen Systembindung und Willkür
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Im Strafrecht reicht die Geschichte juristischer Systembildung weniger weit zurück als im Zivilrecht, dessen Überlieferungen sich bis zur Jurisprudenz Roms zurückverfolgen lassen.[55] Auch wenn Ansätze strafrechtlicher Systembildung in der Antike und in der frühen Neuzeit erkennbar sind, scheint hier eine durchlaufende Traditionslinie zu fehlen. Dabei ist gerade im Strafrecht eine rechtsstaatlich gebändigte Anwendung des Rechts von größter Bedeutung. Dies zeigt der Blick zurück auf Zeiten, in denen die Anwendung des Kriminalrechts derartigen Begrenzungen nicht unterlag. Besonders dramatisch waren die Zustände im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert. In einer älteren Studie dazu findet sich folgende Schilderung:
Die „Auffassung der Strafe als Widervergeltung an Gottes Statt und Abschreckung ließ die wollüstige Grausamkeit des verirrten Menschengeistes unerschöpfliche Qualen für den verurteilten Rechtsbrecher erfinden […]. Die Praxis zog aus der Abschreckungstendenz auch alle übrigen Konsequenzen: den Grundsatz der Öffentlichkeit aller Exekutionen, die womöglich am Orte des begangenen Verbrechens selbst vorgenommen wurden und die verbrecherische Tat äußerlich zu versinnbildlichen suchten; den der Schnelligkeit des Strafvollzuges, der zuweilen der Tat auf dem Fuße folgte, und eine aller Humanität Hohn sprechende Härte und Grausamkeit des Strafensystems, die Hand in Hand ging mit der Willkür der Richter, mit der Verwahrlosung der Strafzumessung und der Entbindung von jedem Prinzip in der Strafrechtspflege.“[56] Besonders barbarisch waren die Zustände infolge einer „grenzenlose[n] Verrohung der Richter“[57] in Frankreich; der Bericht über die Hinrichtung Ravaillacs, des Mörders Königs Heinrich IV, lässt bis heute schaudern.[58]
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Das Zitat macht den Zusammenhang von Systemlosigkeit der Strafrechtspflege, Willkür und Grausamkeit sehr deutlich. Gegen diese Missstände wandte sich die Kritik der Aufklärer, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts an Radikalität gewann, vor allem in Frankreich, wo die gesellschaftlichen und politischen Zustände als besonders drückend empfunden wurden. Zu ihren zentralen Forderungen gehörte eine systematische, also an Prinzipien und Regeln orientierte und damit – so hoffte man – weitgehend willkürfreie, transparente und kontrollierbare Strafrechtsanwendung.[59] Die Forderung nach einem systematisch strukturierten Verbrechenskonzept und damit einer systematischen Prüfbarkeit der Verbrechensvoraussetzungen entstammt also der Erfahrung von praktischem Unrecht (dazu allgemein → AT Bd. 1: Hilgendorf, § 1 Rn. 4).
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Dieses Reformprogramm wurde in Deutschland ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert Schritt für Schritt umgesetzt. Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach, der Begründer der deutschen Strafrechtswissenschaft, hinterließ zwar kein „Strafrechtssystem“ im heutigen Sinne. Die Bedeutung wissenschaftlicher Systematik war ihm jedoch durchaus bewusst:
„Der durch Empirie gesammelte und bearbeitete Stoff ist noch nicht die Wissenschaft selbst; er muss auch in wissenschaftlicher Gestalt und Form dargestellt werden.“[60] Eine solche wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Darstellung muss nach Feuerbach drei Bedingungen erfüllen: „Die erste ist die Richtigkeit, genaue Bestimmtheit, scharfe Präzision, lichtvolle Klarheit der rechtlichen Begriffe, die zweite der innere Zusammenhang der Rechtssätze; die dritte der systematische Zusammenhang der Rechtslehren.“[61] Weiter heißt es: „Die Begriffe in einer Wissenschaft sind die Träger des wissenschaftlichen Gebäudes und verhalten sich zu ihr selbst wie das Gerippe zu dem menschlichen Körper, sie geben ihm Festigkeit und Haltung. Durch sie werden die Objekte der Erkenntnis, die Gegenstände, worüber die Wissenschaft ein Wissen lehrt, fixiert und gebunden, damit sie von dem Verstande festgehalten werden können.“[62]
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Bemerkenswert ist Feuerbachs Absage an das Spielen mit bloßen Begriffen und seine Fokussierung auf (positive) Rechtssätze. Auch die Rechtssätze müssen nach Feuerbach in einem systematischen Zusammenhang zueinander stehen:
„Aus Begriffen allein besteht keine Wissenschaft, so wenig als das Fachwerk zu einem Gebäude das Gebäude selbst ist. Das eigentliche Wissen in der Rechtswissenschaft ist in den Rechtssätzen enthalten. Aber kein Wissen ohne Gründe, keine Wissenschaft ohne Grundsätze! In ihr müssen die einzelnen Sätze durch inneren Kausalzusammenhang untereinander verkettet, das Besondere muss durch das Allgemeine, das Allgemeine durch das Allgemeinste begründet, in ihm enthalten, als notwendige Wahrheit von ihm abgeleitet sein. Nur so erhebt sich auch die Jurisprudenz zur Wissenschaft; ohne dieses ist sie nichts als eine Last für das Gedächtnis, ein trauriger abschreckender Schutthaufen roher und zertrümmerter Materialien, die für den Staat nutzlos und der Vernunft ein Greuel sind.“[63]
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Am deutlichsten wird Feuerbachs Bekenntnis zu strafrechtswissenschaftlicher Systematik in seinen Ausführungen zum notwendigen systematischen Zusammenhang der Rechtslehren:
„Ein Inbegriff von gegebenen und in sich verbundenen Erkenntnissen tritt erst dann in den vollen Rang einer Wissenschaft ein, wenn er sich auch noch die Form des äußeren oder systematischen Zusammenhangs angeeignet hat. Jede Verworrenheit und Disharmonie ist Beleidigung der Vernunft, deren höchste Aufgabe für alles, für das Erkennen wie für das Handeln, Übereinstimmung und Einheit ist. Ordnung ist das Auge des Verstandes, oder vielmehr das Licht, das seine Gegenstände beleuchtet. Wenn die Dichter der Alten uns das Chaos der Welt als eine gärende Masse vorstellen, welche von Nacht und Finsternis bedeckt wird, so dürfen wir immerhin dieses Bild auch auf den chaotischen Zustand der Wissenschaften übertragen. In ihnen ist Nacht, solange nicht durch Scheidung der Stoffe, durch Trennung des Ungleichartigen, durch Verknüpfung des Übereinstimmenden, durch logische Anordnung der Teile, durch sukzessive Darstellung derselben nach dem Verhältnisse, in welchem der eine den anderen voraussetzt, begründet, erläutert, – solange nicht durch alles dieses die rohe Masse zu einem organisierten, mit sich selbst in allen seinen Teilen zusammenstimmenden Ganzen gebildet worden ist.“[64]