Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
oder die Verkehrslage optisch richtig wahrgenommen, aber falsch gedeutet wird.[81] Offenbar soll sich aus der bloßen Wahrnehmung des Verkehrszeichens gleichsam automatisch die Kenntnis von dessen Inhalt ergeben bzw. sich die geschriebenen objektiven Tatbestandsmerkmale auf die Wahrnehmung des Verkehrszeichens (verkehrsberuhigter Bereich) und das Fahren mit höherer Geschwindigkeit als Schrittgeschwindigkeit beschränken. Indes ist bei Verkehrszeichen nicht der Verstoß gegen das Zeichen als solches, sondern gegen die in Form der Allgemeinverfügung ergangene Anordnung bußgeldbewehrt.[82] Anordnung und Inhalt ergeben zusammen den Tatbestand der Allgemeinverfügung. Das Verkehrszeichen fasst diesen Tatbestand lediglich bildhaft zusammen; umschrieben wird er in der StVO. Im Lichte der verfehlten Rechtsprechung müsste man auch z.B. einem Ausländer, der das Schild sieht und mit 15 km/h durch den verkehrsberuhigten Bereich fährt, einen vorsätzlichen Verstoß anlasten, selbst wenn er vom Inhalt des Verkehrszeichens überhaupt keine Ahnung hat. Solche Interpretationen nehmen dem Bußgeldtatbestand den sinnvollen Inhalt, laufen auf Fiktionen hinaus und setzen sich über § 49 Abs. 3 Nr. 5 StVO hinweg, der ausdrücklich das Nichtbefolgen eines durch Richtzeichen angeordneten Ge- oder Verbots ahnden will.[83]
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Das OLG Bamberg[84] hat in jüngerer Zeit die Rechtsprechung bestätigt, dass die optische Wahrnehmung der Beschilderung als solche genüge, um einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum abzulehnen. In dem Fall ging es um eine Trägertafel mit mehreren Zeichen (oben Geschwindigkeitsbegrenzung auf 60 km/h, darunter das Überholverbotszeichen, unten das Zusatzzeichen „nur für Lkw, Busse …“) und einen Pkw-Fahrer, der wegen des Zusatzzeichens das Geschwindigkeitslimit – entgegen § 39 Abs. 3 S. 3 StVO – nicht auf sich bezog. Der Betroffene habe sich, so das OLG Bamberg, nicht über die tatsächlichen Umstände des Verbots geirrt, sondern sei lediglich einem Wertungsirrtum, also einem Verbotsirrtum, hinsichtlich der Bedeutung der angebrachten Zusatzschilder unterlegen. Immerhin werden die Gegenstimmen[85] erwähnt, doch wird nicht die Gelegenheit genutzt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Übersehen wird u.a., dass man in dem Verbot, nicht schneller als 60 km/h fahren zu dürfen, auch einen Tatumstand sehen kann, den der Betroffene auf sich beziehen muss. Meint er, wegen des Zusatzzeichens gelte das Geschwindigkeitsverbot für ihn nicht, erfasst er diesen Tatumstand nicht.[86]
8. Abschnitt: Unrechtsbegründung: Tatbestand › § 32 Geschriebene objektive Tatbestandsmerkmale › Ausgewählte Literatur
Ausgewählte Literatur
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Bülte, Jens | Emissionszertifikate als ähnliche Rechte auch im Steuerstrafrecht – Kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG, NZWiSt 2017, 161 ff. |
Cornelius, Kai | Verweisungsbedingte Akzessorietät bei Straftatbeständen, 2016. |
Dannecker, Gerhard | Nullum crimen, nulla poena sine lege und seine Geltung im Allgemeinen Teil des Strafrechts, FS Otto, S. 25 ff. |
Eisele, Jörg | Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht, 2004. |
Gallas, Wilhelm | Zum gegenwärtigen Stand der Lehre vom Verbrechen, ZStW 67 (1955), 1 ff. |
Kemme, Matthias | Das Tatbestandsmerkmal der Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten in den Umweltstraftatbeständen des StGB, 2007. |
Kraatz, Erik | Der Untreuetatbestand ist verfassungsgemäß – gerade noch!, JR 2011, 434. |
Krell, Paul | Zur Bedeutung der „Drittnormen“ für die Untreue, NStZ 2014, 62 ff. |
Krell, Paul | Das Verbot der Verschleifung strafrechtlicher Tatbestandsmerkmale, ZStW 126 (2014), 902 ff. |
Krüger, Matthias | Neues aus Karlsruhe zu Artikel 103 II GG und § 266 StGB, NStZ 2011, 369 ff. |
Mitsch, Wolfgang | Recht der Ordnungswidrigkeiten, 2. Aufl. 2005. |
Perron, Walter | Hat die deutsche Straftatsystematik eine europäische Zukunft?, FS Lenckner, S. 227 ff. |
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Rengier, Rudolf | Die öffentlich-rechtliche Genehmigung im Strafrecht, ZStW 101 (1989), 874 ff. |
Rengier, Rudolf | Zum Täterkreis und zum Sonder- und Allgemeindeliktscharakter der „Betreiberdelikte“ im Umweltstrafrecht, FS Kohlmann, S. 225 ff. |
Rönnau, Thomas | Untreue als Wirtschaftsdelikt, ZStW 119 (2007), 887 ff. |
Rönnau, Thomas/Becker, Christian | Von der Überholspur in den Totalschaden: die untreuestrafrechtliche Aufarbeitung der causa „Nürburgring“, JR 2017, 204 ff. |
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Saliger, Frank | Gibt es eine Untreuemode? Die neuere Untreuedebatte und Möglichkeiten einer restriktiven Auslegung, HRRS 2006, 10 ff. |
Saliger, Frank | Wider die Ausweitung des Untreuetatbestandes, ZStW 112 (2000), 563 ff. |
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Saliger, Frank | Umweltstrafrecht, 2012. |
Schuster, Frank P. | Das Verhältnis von Strafnormen und Bezugsnormen aus anderen Rechtsgebieten, 2012. |
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Tiedemann, Klaus | Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2017. |
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Wissmann, Philipp |
Der Irrtum im Urheberstrafrecht, |